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Verfassungsrechtliche Implikationen der Anti-Atomkraft-Bewegung (3. November 1976)

Ein liberaler Kommentator verweist auf die Ironie des Umstands, daß sich eine Bürgerbewegung gegen Entscheidungen demokratisch gewählter Gremien wendet, kritisiert die kostenintensive Gewaltanwendung, um die Proteste zu unterbinden und fordert die Politiker dazu auf, den Widerstand eines aktiven Teils der Bevölkerung gegen Atomkraft ernster zu nehmen.

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Kernkraft spaltet den Rechtsstaat


Seit einiger Zeit gibt es den Begriff „Nuklearfaschismus“. Er hat seinen Weg in die öffentliche Diskussion noch nicht gemacht, weil nur wenige sich darunter etwas vorstellen können. An den Auseinandersetzungen um die Baustelle von Brokdorf an der Unterelbe läßt sich erahnen, was gemeint ist. Der Aufmarsch von Polizeihundertschaften mit Gasmasken, Hunden und Wasserwerfern, die nachrückenden Planierraupen und Stacheldrahtverleger sind für jeden, der den Sonderbericht des NDR-Fernsehens am Sonntagabend sah, ein bleibender Eindruck. Doch das Entscheidende ist nicht die Aktion im Morgengrauen, mit der – nach der Bundestagswahl – eine plötzlich erteilte Baugenehmigung mit Anweisung zum sofortigen Vollzug für ein seit Jahren umstrittenes Projekt im Handstreich durchgezogen wird, um Bürgerinitiativen auszumanövrieren; bedeutsamer noch sind die massenpsychologische Begleitmusik und das souveräne Zusammenspiel von Elektrizitätsunternehmen, Landesregierung, Sicherheitsorganen und Polizei. Sie waren alle wohlinformiert und konnten sich gut vorbereiten.

Das Schema des Vorgehens ist ähnlich dem von Wyhl. Gegen das Planfeststellungsverfahren werden von betroffenen oder besorgten Bürgern Einwände erhoben, in Brokdorf mehr als 20 000. Auch vor Gericht werden Klagen eingereicht. Die Bevölkerung wird daraufhin zu Hearings eingeladen, bei denen Polizeipräsenz für die nötige Stimmung sorgt. In Brokdorf waren sie so organisiert, daß – nach Aussage eines Mitwirkenden in dem Fernsehfilm – die Dithmarscher Betroffenen an dem einen Tag zu Wort kamen, die von ihnen bestellten Fachleute aber an einem anderen. Damit konnten die einen als unkundig in Atomfragen, die anderen als hergereiste Nichtbetroffene behandelt werden. Inzwischen nahm das Genehmigungsverfahren durch die Regierung in Kiel seinen Fortgang, streng nach der Ordnung des Rechtsstaates und ohne daß der Landtag mit der Sache befaßt wurde.

Das ist, wie der zuständige Sozialminister Claussen ausführte, nicht vorgesehen. Fragen von Kernkraftwerken sind allein durch die Exekutive zu behandeln, die dabei allerdings – außer der Industrie – keinen Gesprächspartner hat, es sei denn, es bilden sich Bürgerinitiativen. Diese aber werden als nicht legitimiert behandelt. Der Rechtsstaat sieht sie nicht vor, oder genauer: Der Gesetzes- und Verordnungsstaat sieht sie nicht vor. Und wenn auch im Grundgesetz steht, daß alle Deutschen sich friedlich und ohne Waffen versammeln dürfen, so gibt es doch keine Regierung, die sich um solche Versammlung irgendwie kümmern müßte.

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