Streng geheim
Kopie Nr. 1 An Genossen V.M. Molotow
An Genossen N.A. Bulganin
Über die Ereignisse vom 17.-19. Juni 1953 in Berlin und der DDR und bestimmte Schlüsse aus diesen Ereignissen.
Das folgende Memorandum ist ein vorläufiger Bericht über die Ereignisse des 17.-19. Juni in Ost-Berlin und der DDR, über die Gründe der Wirren und über verschiedene praktische Schlüsse, die aus den genannten Ereignissen gezogen werden können. Bis jetzt waren wir nicht in der Lage, zu einem tiefgreifenden Verständnis der zugrunde liegenden Probleme zu kommen, da die Nachforschungen über die verhafteten Beteiligten an den Unruhen noch im Anfangsstadium sind. Die Frage der Ereignisse des 17. Juni, die eine große internationale Provokation darstellen und die im voraus von drei westlichen Staaten und ihren Komplizen innerhalb des westdeutschen monopolistischen Kapitals vorbereitet wurden, ist in diesem Memorandum nicht eingehend untersucht worden, zum Teil aus einem Mangel an Fakten zum gegenwärtigen Zeitpunkt und auch deshalb, da die genannten Angelegenheiten bereits in allgemeiner Form in der sowjetischen Presse weit verbreitet wurden.
In jedem Fall ist klar, dass der 17. Juni der sogenannte „Tag X“ war, d.h. der Tag offener Aggression gegen den demokratischen Sektor der DDR durch faschistische und andere Organisationen, die hauptsächlich unter der Führung des amerikanischen Geheimdienstes arbeiten.
Das Ansetzen des „Tages X“ auf den 17. Juni als Tag der Aggression der faschistischen Elemente ergibt sich scheinbar aus den folgenden Gründen: a) der Ankündigung des ZK des SED-Politbüros am 9. Juni diesen Jahres zum neuen politischen und wirtschaftlichen Kurs der DDR, dessen Ausführung jegliche Chancen einigermaßen bedeutsamer Unterstützung der faschistischen Aggression durch die Bevölkerung der DDR zunichte gemacht hätte; b) der amerikanischen Bemühungen, ein weiteres Anwachsen der Opposition gegen die aggressive Politik der USA in weiten Bereichen westeuropäischer Gesellschaftskreise abzuwehren und den Bemühungen, das Entstehen eines Konsensus in Westeuropa mit der Sowjetunion zu verhindern, sowie die gleichzeitige Bewegung zum Frieden hin auf der Grundlage der Anerkennung des vorherrschenden Einflusses der Sowjetunion in Ländern der Volksdemokratie einschließlich der DDR. Dies wird durch die gleichzeitige Aggression sowohl in der Tschechoslowakei als auch der DDR am Vorabend der Bermuda-Konferenz dreier westlicher Staaten deutlich; c) die Amerikaner und die Adenauer-Ollenhauer-Clique zogen die Unzufriedenheit der Arbeiter und anderen Werktätigen mit der Situation in der DDR in Betracht, die aus den Fehlern resultierte, die vom ZK der SED und der SKK [Sowjetischen Kontrollkommission] während ihrer Einführung der Politik des sogenannten „beschleunigten Aufbau des Sozialismus“ gemacht wurden. Adenauer hatte vor, diese Unzufriedenheit auszunutzen, um seine Position vor den anstehenden Bundestagswahlen im August/September dieses Jahres zu stärken; d) die Provokation des 17. Juni durch die Weststaaten und die Regierung Adenauers hatte ganz klar die Absicht, die Sowjetunion von ihrem gegenwärtigen Kurs in ihren Beziehungen zur DDR abzubringen.
Dieses Memorandum beinhaltet drei Hauptteile: I. Der Ablauf der Ereignisse in der DDR am 17.-19. Juni; II. Die wirtschaftlichen Probleme, vor welche die DDR vor dem Hintergrund der Ereignisse des 17.-19. Juni gestellt ist; III. Einige Schlüsse und Empfehlungen.
I. Der Ablauf der Ereignisse in der DDR am 17.-19. Juni.
1. Am Vorabend der Aggression.
Kurz nach dem SED-Parteitag (Juli 1952) und als Ergebnis des neuen Kurses zur „Beschleunigung des Aufbaus des Sozialismus“, der dort angenommen wurde, begannen in der DDR ernsthafte und ständig wachsende Unterbrechungen in der Versorgung mit Gütern zur Grundversorgung zu entstehen, insbesondere Fett, Fleisch und Zucker: im Winter 1952-53 gab es außerdem ernsthafte Versorgungseinbrüche bei Heizung und Elektrizität in den Städten. Dies führte zu dem Anstieg der Unzufriedenheit, hauptsächlich innerhalb der weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Im Dezember und Januar/Februar 1952 gab es einzelne Vorkommnisse kleiner und kurzlebiger Arbeiterstreiks innerhalb einiger Unternehmen; diese erregten jedoch nicht die Aufmerksamkeit des ZK der SED und der SKK-Organe. Im Januar-März 1953 wurden als Teil des neuen „Regimes der Sparsamkeit“ eine Zahl von Privilegien und Vorzugsbehandlungen, die von deutschen Arbeitern seit 1945 und in vielen Fällen auch davor genossen wurden, unter aktiver Beteiligung der SKK rückgängig gemacht (die Aufhebung der Bahnpässe, die Änderung der Krankheitstageregelung, die Abschaffung zusätzlicher Urlaubstage für Sanatoriumsaufenthalte, die Kürzungen in der Arbeitsunfähigkeitsversicherung für berufstätige Frauen, die zu Hausfrauen geworden waren, usw.). Weitere Preissenkungen für Konsumgüter geschahen seit dem Frühjahr 1952 nicht mehr. Im Gegenteil, die Preise der Lebensmittelmarken für Fleisch wurden um 10-15% erhöht unter dem Vorwand, die Qualität der Fleischprodukte sei gestiegen. All dies, sowie der Anstieg der Preise für Marmelade und künstlichen Honig (ein Produkt, das häufig von geringverdienenden Arbeitern konsumiert wird), erzeugte Unzufriedenheit unter den Arbeitern, die noch verstärkt wurde durch das Versäumnis der Partei und der Regierung, nach dem 2. SED-Parteitag Schritte zu unternehmen, um die Situation der großen Masse der Arbeiter zu verbessern, mit Ausnahme der Lohnerhöhungen für ITR im Juli 1952 sowie für Facharbeiter in den fünf Hauptzweigen der Industrie.