Angst vor der Vergangenheit?
Notizen zu den Reaktionen auf „Holocaust“
Niemand hatte eine derartige Reaktion auf Holocaust erwartet. Daß ein kommerzieller Fernsehfilm für das amerikanische TV-Publikum es geschafft hat, den Gemütszustand der bundesrepublikanischen Bevölkerung aufzuwühlen, ist eine Sensation ersten Ranges. Im WDR gingen die Verantwortlichen vor der Sendung davon aus, daß zwar einige Telefonanrufe eingehen, die Zahl der Anrufe den üblichen Rahmen (Sendung: ‚Anruf erwünscht’) aber nicht übersteigen würde. Auch in der Panel-Redaktion, die eingesetzt worden war, um die eingehenden Anrufe für die anschließende Diskussionsrunde auszuwerten, war man noch kurz vor der Sendung der Meinung, daß es nicht schlimmer als sonst kommen, daß man einige relativ ruhige Abende vor sich haben würde. [ . . . ]
Schon Stunden vor Ausstrahlung des Films meldeten sich die ersten Anrufer, die sich darüber beschwerten, daß der Film überhaupt in Deutschland gezeigt würde. Die Tendenz war eindeutig negativ. Die wochenlange Stimmungsmache gegen den Film, der Vorwurf der Trivialität, die Unterstellung mangelnder Authentizität und Glaubwürdigkeit, schlug sich in den Meinungen der Anrufer nieder, die den Film verurteilten, ohne ihn noch gesehen zu haben. Nachdem der Film ca. 30 Minuten lief, änderte sich die Tendenz. Der Film zeigte Wirkung. Die von den Telefonisten auf DIN A5-Karten protokollierten Anrufe ließen erkennen, daß das Fernsehpublikum in zunehmendem Maße Anteil am Schicksal der Familie des jüdischen Arztes Josef Weiss zu nehmen begann.
Wer die ersten telefonischen Reaktionen auf den Film zur Kenntnis nahm, erhielt den überraschenden Eindruck, es habe in der Bundesrepublik bisher überhaupt noch keine nachhaltige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben. Auf einen Zettel schrieb ich, um den Trend der Anrufe zu kennzeichnen: ‚Starke Emotionalität – mit zunehmender Tendenz’. Die meisten Anrufe kreisten um die Begriffe ‚Vergessen’, ‚Schuld’ und ‚Wie konnte es dazu kommen?’. Mir drängte sich das Gefühl auf, als ob viele Anrufer das Bedürfnis verspürten, mit irgend jemandem zu reden, ihre Betroffenheit, Bestürzung und Scham loszuwerden. Einige der jungen Leute, die pausenlos damit beschäftigt waren, Anrufe entgegenzunehmen, meinten auf meine Frage nach ihren ersten Eindrücken, so etwas hätten sie noch nie erlebt, sie hätten fast den Eindruck, ‚seelsorgerische Dienste’ zu leisten. [ . . . ]