GHDI logo

Wohnung und Häuslichkeit (1899)

Seite 2 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Auf die wohlhabende Bevölkerung wirkt nicht nur die Kündigung, die der Umwandlung der Wohnung in Läden und Contore vorangeht, verdrängend, sondern auch der zunehmende Lärm und Wirrwarr in diesen Stadtteilen und besonders die Mode, welche andere Viertel fashionable macht; wer also financiell so weit ist, daß er nicht mehr in ein paar dunkeln Zimmern hinter dem Laden zu wohnen gezwungen ist, wandert in einen mehr peripheren Stadtteil ab. Schlimmer sind die kleineren „shopkeeper“ [Ladeninhaber] dran, die Wohnung und Laden in einem Geschoß oder doch in einem Hause haben müssen; die wachsende Ladenmiete steigert auch die Wohnungsmiete, man muß sich mit weniger Zimmern einrichten, oder Pensionäre, Zimmerherrn, Schlafgängerinnen aufnehmen. Damit ist der erste Schritt zur Zerstörung des home [ihres Heims] oder zum Eintritt ernster Wohnungs-Mißstände gethan.

Am allerfestesten aber sitzen die kleinen Leute im Centrum; bald ist es die Gewohnheit, die sie da festhält, bald die Unmöglichkeit, in der Peripherie eine Wohnung zu finden, meist aber erlaubt ihnen die Art ihrer Arbeit nicht, sich weiter vom Centrum zu entfernen. Die Heimarbeiterin will in der Nähe des Confectionshauses bleiben; Lohndiener, Droschkenkutscher, Aufwartefrau, Plätterin, Waschfrau, Mietsfrau, Dienstmann, Hausschneiderin, Hebamme, Copisten, Tanz- und Clavierlehrer dürfen „ihre“ Gegend nicht verlassen, wenn sie ihre Kundschaft nicht verlieren, wenn sie ihre reine Gelegenheitsarbeit noch finden wollen; sie bleiben und helfen sich in zweierlei Weise. Die Unternehmungslustigen, oder wer noch ein paar Groschen riskiren kann, mieten eine der leergewordenen „herrschaftlichen“ Wohnungen und beginnen das an Abwechselung und Verlusten reiche Leben der „möblirten Zimmervermieterin“ oder der Pensions-Inhaberin oder Schlafstellen-Vermieterin. Damit verfällt auch in dieser Schicht das Familienleben. Wenn auch Fälle, in denen ein alleinstehender Mann mehrere Schlafmädchen in einem Durchgangszimmer beherbergt, oder in denen eine jüngere Witwe mehr als 10 junge Fabrikarbeiter bei sich hat, nicht die Regel bilden*, eine widerwärtige Promiscuität ist doch die Regel. Und welche Statistik erzählt uns von den vielen, vielen Amandas und Wandas mit großem Federhut und „separatem Eingang“, die alle Kinder im Hause so bewundern und beneiden, die immer so viele Süßigkeiten hat, deren regelmäßige und gelegentliche Besucher das ganze Haus so sorgfältig zählt?

Wo die Mittel zu einem solchen Wagnis fehlen – und manche gute Mutter mag die dem Volke sehr wohl bekannte große Kindersterblichkeit der Schlafgänger-Quartiere abschrecken –, und man sich doch nicht zum Verlassen des Centrums entschließen kann, da sucht man sich eben in einer zugigen Dachkammer, einem leer gewordenen Kellergelaß, einem irgendwie, irgendwo in den Winkeln und Gängen ehemals weiträumiger Patricierhäuser improvisirten Verschlage einzurichten, oder freundliche Wirte, die ihre Mieter nicht gern in die Vorstadt ziehen lassen, bringen noch schnell ein Seiten- oder Hintergebäude in ihrem Hofe unter, wo jedes Stockwerk ein paar Wohnungen aus Küche und Kammer bekommt. Wenn in einer solchen Wohnung außer Vater und Mutter nicht mehr als fünf Kinder sind, dann kommt sie nicht als „übervölkert“ ins „Jahrbuch deutscher Städte“, – auch wenn kein einziges Nebengelaß dazu gehört, wenn die Zimmer in den Sommernächten kochend heiß sind, wenn im Winter nie ein Sonnenstrahl in den Hofschacht fällt; für die Statistik ist eine „Küche mit Fenster“ allemal ein „heizbares Zimmer“, und eine Wohnung von zwei Zimmern mit weniger als acht Bewohnern ist nicht „übervölkert“. Denn es giebt ja sehr viele Wohnungen mit Küchen ohne Fenster.


* In München wurden 1890 nicht weniger als 414 alleinstehende Männer gefunden, die ein oder mehrere Schlafmädchen beherbergten.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite