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Friedrich Bülaus Ruf nach einer marktorientierten Lösung des Armutsproblems in Deutschland (1834)

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Aber nicht bloß daß die Bevölkerung zugenommen hat, nicht bloß daß die Mehrzahl des Volks auf eine freiere und ebendeshalb bedürfnisreichere Stufe hinaufgerückt ist, die Bedürfnisse aller haben sich vermehrt, und für den Ärmsten ist jetzt Bedürfnis, was es früher für den Reichsten nicht war. Vergleichen wir die Haushaltung eines Tagelöhners unsrer Tage mit der eines Fürsten des Mittelalters und wir finden, daß der erstere im Besitze vieler Vorteile ist, die wesentlich dazu beitragen, die Annehmlichkeiten des Lebens zu erhöhen, während der letztere nur einen Überfluß an Gegenständen voraushat, bei denen der Überfluß ohne Wert ist. Die Tische und Stühle in der elendesten Hütte sind bequemer als die Thronsessel unserer Vorfahren; Fenster und Spiegel waren vor wenigen Jahrhunderten nur ein seltener Prunk der Reichen; Hemden ein Luxus; mit Binsen wurden noch vor drittehalbhundert Jahren die Zimmer der Königin Elisabeth von England gestreut; selbst die nützlichen Werkzeuge, die Messer und Äxte der Vorzeit, wie roh und unbeholfen, wie unzweckmäßig waren sie nicht; nur in Waffen war Kunst und doch, was sind die Waffen des Mittelalters gegen die unsrigen, sobald wir auf den Gebrauch achten? Überfluß an Gegenständen der Urproduktion, an Speise und Trank und kunstlosen Kleiderstoffen war der Luxus des Mittelalters. Es bedarf keines Beweises, daß gegenwärtig eine größere Genußsumme, eine größere Masse von Vorzügen, Annehmlichkeiten und Vorteilen des Lebens über Europa verbreitet und ungleich weiter verteilt ist, als es zu irgendeiner Periode seiner Geschichte der Fall war. Dabei ist nicht zu vergessen, daß eine größere Sparsamkeit im Genusse der Urprodukte, also des Notwendigsten, nicht infolge der Not, sondern als natürliche Begleiterin der Kultur und des erweiterten Genußkreises eingetreten ist.

„Aber eben jene künstlichen, neu entstandenen Bedürfnisse, wie soll sie der Arme befriedigen; wie können sie für die immer wachsende Anzahl des Volkes in erforderlicher Masse geschafft werden?“ Also ihr glaubt, dem Volke die einmal — und nicht zum Schaden der Menschheit — zum Bedürfnis gewordene Befriedigung zu erleichtern, wenn ihr die Kräfte vermindert, die sie schaffen? Wird denn nicht mit der Zunahme der Bevölkerung auch die Produktion, und bei diesen künstlichen Fabrikaten in einem die Progression der Volkszahl unendlich übersteigendem Verhältnisse erweitert? Werden nicht täglich neue Erleichterungen, neue und vollkommnere Hilfsmittel entdeckt und mit reißender Schnelligkeit verbreitet? Hat nicht die Naturkraft, indem sie in künstlichen Maschinen gefesselt ward, ein neues Bündnis mit dem Menschen geschlossen und ihm ihre Dienste in einer Art gelobt, in der sie sie früher ihm nicht zollte? Der Gedanke ist produktiv geworden; er wirkt in den Rädern der Dampfmaschine, und unermeßliche Gütermassen finden in theoretischer Spekulation ihre Quelle. Und klagt man wohl über Mangel und Teurung, klagt man nicht über Überfluß und Wertlosigkeit der Waren? Die Bevölkerung scheint der Produktion nicht gefolgt, die letztere scheint rascher vorgeschritten zu sein als die erstere. Jedenfalls hat auch hier das analoge Gesetz gewaltet: es ist mehr produziert worden, weil mehr gebraucht ward, und weil mehr produziert ward, wurde mehr gebraucht.

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