GHDI logo

„Da war mir klar: Ich mußte Flüchtling werden” (19. März 1953)

Seite 4 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Vor einer Woche war ich bei der Behörde der Kreisstadt. Der Funktionär sagte: ›Glauben Sie, wir wüßten nicht, daß Ihnen im Winter zwei Pferde krepiert sind? Einfach verhungern lassen haben Sie die armen Tiere! Wissen Sie, was das ist? Sabotage! Wissen Sie, was darauf steht? Zuchthaus. – Sie haben bisher den Kunstdünger, der auf Ihren Anteil fällt, nicht abgenommen. Auf Ihren Feldern wird nichts wachsen. Sabotage am Volksvermögen! Und jetzt haben Sie noch die Frechheit, Kredite zu verlangen!‹ Ich bat und flehte: ›Nehmt meinen Hof in die Produktionsgenossenschaft!‹ Sie schmissen mich hinaus. Daheim saß meine Frau und packte Pakete, um sie nach Ost-Berlin vorauszuschicken. Ich sah es und heulte wie ein Schloßhund. Es war zu Ende. Alle Arbeit umsonst. Dabei hatten meine Frau und ich und unsere zwölfjährige Tochter den Winter hindurch alles allein gemacht auf dem Hof; wir hatten keine Löhne mehr zahlen können. Vorvorgestern wurde ich aufs neue zur Kreisstadt geladen. Ich sagte: ›Ich habe mein Soll erfüllt. Ich habe getan, was ich konnte.‹ Sie sagten: ›Schuft! Sie haben Ihre Magd und Ihren Knecht entlassen und auf die Straße gesetzt. Kapitalistenschwein!‹ Ich nahm den Hut, und bevor ich ging, sagte ich: ›Ich fahr nach Berlin, fahr zum Landwirtschaftsministerium, um mich zu beschweren.‹

›Bitte schön!‹, sagten die Genossen ruhig. Sie wußten: sie hatten mich. – Ich meldete es in meinem Dorfe: Beschwerdefahrt nach Berlin. Ich ließ es mir bescheinigen. Aus dem Zuge nach Berlin holten sie Leute raus, denen sie nicht trauten. Einer in unserem Abteil hatte schon einen Stempel im Ausweis: ›Fluchtverdacht!‹ Ich hatte meine Bescheinigung: Beschwerdefahrt. Ich ging zu Bekannten in Ost-Berlin: dort lagen die Pakete, die meine Frau gepackt hatte; täglich gehe ich hin; täglich neue Pakete: Wäsche, Geschirr, Kleider, Konserven. Ich beschwerte mich natürlich nicht; ich ging hierher, zur Kuno-Fischer-Straße. Meine Frau sollte das lassen: das Pakete-Packen ...« Am dritten Tag. Der Bauer in seinem Lodenmantel lehnt am Vorgartenzaun. Aber man sieht ihm eine Veränderung an. Seine Frau und seine Tochter sind angekommen. Drinnen werden sie registriert ...



Quelle: Jan Molitor [Josef Müller-Marein], „Da war mir klar: ich mußte Flüchtling werden“, Die Zeit, 19. März 1953.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite