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Bundespräsident Johannes Rau fordert eine Globalisierungspolitik (13. Mai 2002)

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X.

Mit Globalisierung verbinden viele Menschen die Angst, etwas zu verlieren: Heimat, Identität, die Möglichkeit, auf das Einfluss zu nehmen, was das eigene Leben bestimmt. Für andere Länder gilt das gewiss noch viel stärker als bei uns in Deutschland.

Wir alle wissen, wie schwierig es schon ist, die wirtschaftliche Globalisierung Schritt für Schritt politisch zu gestalten. Noch ungleich schwieriger aber ist es zu verhindern, dass Globalisierung auch zum Verlust kultureller Vielfalt und kultureller Identität führt. Wir erleben ja heute nicht so sehr das Entstehen einer neuen Kultur aus vielen verschiedenen Wurzeln. Was uns bei uns begegnet, das ist europäisch und nordamerikanisch geprägt und uns daher in Vielem vertraut. Für viele Menschen bedeutet Globalisierung aber, dass ihre Traditionen und ihre Weltsicht verdrängt und überlagert werden.

Diese Menschen kennen die Vorteile, die der wirtschaftliche Fortschritt mit sich bringt, und sie schätzen diese Vorteile. Sie merken aber auch, wie wenig ihre Überlieferungen, ihre Kultur, einfach: ihr Anderssein respektiert wird, wenn es darum geht, dem wirtschaftlichen Fortschritt, dem globalen Markt den Weg zu ebnen.

Diese Menschen fühlen sich in ihrer Würde verletzt. Sie fühlen sich als Verlierer und viele sind es tatsächlich. Wer sich heimatlos und entwurzelt fühlt, der wird leicht zum Opfer fundamentalistischer oder populistischer Parolen. Das erleben wir seit vielen Jahren nicht nur in fernen Ländern. Politische Extremisten finden auch in europäischen Ländern viel Zulauf und gewinnen bei Wahlen erschreckend viele Stimmen.

Wir können diese gefährliche Entwicklung nur eindämmen, wenn wir Entfremdungsgefühle ernst nehmen und ihren Ursachen nachgehen. Eine Globalisierung, die Menschen überfordert, schadet letztlich unseren Gesellschaften insgesamt. Auch das zeigt, dass Globalisierung politisch gestaltet werden muss.

Ich spreche viel und oft über die Begegnung und über den Dialog der Kulturen. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Dabei muss aber noch viel stärker als bisher in den Blick kommen, dass wir den Dialog auch im eigenen Land brauchen. Einen wirklichen Dialog kann man nur führen, wenn die beteiligten Partner sich gegenseitig wirklich ernst nehmen, wenn das Bewusstsein und das Gefühl gleichen Wertes und gleicher Würde vorhanden ist. Wer einen Dialog führt, der muss auch akzeptieren, dass er nicht allein im Vollbesitz der ganzen Wahrheit ist. Um es mit den Worten von Hans Georg Gadamer zu sagen: Wer in einen Dialog eintritt, der lässt sich darauf ein, dass der Andere vielleicht Recht haben könnte.

Nur wenn wir bereit sind, unterschiedliche kulturelle, religiöse, wirtschaftliche und politische Identitäten und gesellschaftliche Gestaltungsideen zu respektieren, nur dann gelingt es uns, im eigenen Land und in der einen Welt zusammen zu arbeiten und friedlich zusammen zu leben.

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