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Philipp Scheidemann gegen die Annahme des Versailler Vertrages (12. Mai 1919)

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Aber eine Bemerkung kann ich nicht unterdrücken: die Welt ist wieder einmal um eine Illusion ärmer geworden.

(Sehr wahr!)

Die Völker haben in dieser an Idealen armen Zeit wieder einmal einen Glauben verloren. Welcher Name ist auf tausend blutigen Schlachtfeldern, in tausend Schützengräben, in verwaisten Familien, bei Verzweifelten und Verlassenen während der blutigen Jahre andächtiger und gläubiger genannt worden als der Name Wilson? Heute verbleicht das Bild des Friedensbringers – wie die Welt ihn sah und hoffte – hinter der finsteren Gestalt der Kerkermeister, an deren einen, an Clemenceau, dieser Tage ein Franzose schrieb: Die wilde Bestie ist bei Wasser und Brot in den Käfig gesteckt und geprügelt worden. Man hat ihr aber noch die Zähne gelassen und kaum die Krallen beschnitten.

(Rufe: Pfui!)

Meine Damen und Herren! Überall in Berlin hängt das Plakat, das für unsere armen Brüder in der Gefangenschaft werktätige Liebe wachrufen will: traurige, hoffnungslose Gesichter hinter Gefängnisgittern. Das ist das richtige Titelbild für diesen sogenannten Friedensvertrag.

(lebhafte Zustimmung)

das ist das getreue Abbild von der Zukunft Deutschlands! Sechzig Millionen hinter Stacheldraht und Kerkergittern, sechzig Millionen bei der Zwangsarbeit, denen die Feinde das eigene Land zum Gefangenenlager machen!

Ich kann Ihnen aus dem unglaublich feinen Gitterwerk, mit dem uns Luft und Licht, mit dem uns jeder Ausblick auf Erlösung verhängt und versagt werden soll, – ich kann Ihnen aus diesem Gitterwerk nicht jedes Stäbchen vorführen. Bei genauerem Zusehen entdeckt man immer wieder eine Schlinge, in der sich die Hand verfängt, die sich in die Freiheit hinausstrecken will. Sie haben nichts vergessen und wohl nur hinzugelernt, was Vernichtung, was Zerstörung heißt. Dieser Vertrag ist so unannehmbar, daß ich heute noch nicht zu glauben vermag, die Erde könne solch ein Buch ertragen, ohne daß aus Abermillionen Kehlen aus allen Ländern, ohne Unterschied der Partei, der Ruf erschallt: Weg mit diesem Mordplan!

Lassen Sie mich außerhalb unserer Grenzen beginnen: Deutschland wird, wenn die Bedingungen angenommen würden, nichts mehr sein eigen nennen, was außerhalb dieser seiner verengten Grenzen liegt. Die Kolonien verschwinden; alle Rechte aus staatlichen oder privaten Verträgen, alle Konzessionen und Kapitulationen, alle Abkommen über Konsulargerichtsbarkeit oder ähnliches, – alles, alles verschwindet! Deutschland hat im Ausland aufgehört zu existieren! Aber das genügt noch nicht: Deutschland hat Kabel – sie werden ihm weggenommen. Deutschland hat Funkstationen – drei Monate nach Inkrafttreten des Friedensvertrages dürfen diese Stationen nur noch Handelstelegramme versenden und nur unter Kontrolle der Alliierten! Also heraus aus der Außenwelt und Abschneidung von der Außenwelt! Denn was für Geschäfte zu machen sind unter der Kontrolle des Konkurrenten oder Vertragsgegners, das braucht nicht ausgemalt zu werden.

Aber noch lange nicht genug: es könnte doch noch eine deutsche Beziehung zum Ausland bestehen. Also bestimmte der Rat der Vier:

„Verträge zwischen Feinden gelten als aufgehoben..., ausgenommen solche Verträge, deren Ausführung eine Regierung der alliierten oder assoziierten Mächte zugunsten eines ihrer Staatsangehörigen binnen sechs Monaten verlangt.“

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