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Helene Stöcker, „Die Ehe als psychologisches Problem” (1929)

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Überall, wo der Geist lebendig bleibt, wo die Seele mitlebt in der Liebe, wo noch Entwicklung des Wesens ist, braucht es kein Ende der Liebe zu geben, keinen Tod. Veränderungen der äußeren Formen vielleicht, Veränderungen dem Grade, nicht der Art nach: so in den späteren Jahren ein allmähliches Zurückebben der wildesten Leidenschaft, während die Zärtlichkeit, die seelische Innigkeit wächst. So wird, wo irgend Echtheit und Stärke der Liebesfähigkeit vorhanden ist, erst der Tod die Gatten scheiden. Die Erkenntnis von der naturgesetzlichen Allgegenwärtigkeit der Liebe, die wir wie das Atmen nicht aus dem Leben hinwegdenken können, — ihrer innigen unablöslichen Verbundenheit mit unserem gesamten Leben, vom ersten bis zum letzten Tage, immer stärker und zwingender in das Bewußtsein der Menschen zu tragen, das ist ein wesentlicher Teil unserer schönen Aufgabe: der Sexualreform und ihrer wissenschaftlichen Begründung. Jeder, der dabei in irgendeiner Weise mithilft, ein dankbar bewillkommneter Gefährte. Diese beglückende Erkenntnis vor allem auch zugunsten der Frau sich auswirken zu lassen, ist vielleicht noch notwendiger als dem Manne gegenüber, dem seine bisherige größere Machtstellung in der Welt das siegreiche Bewußtsein dauernder Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft zum großen Teil bereits gegeben hat.

Durch die auf einer primitiveren Sexualität beruhend-Suggestion, der ein großer Teil der Männer noch unterliegt, daß nur die Jugend liebenswert sei, wird heute noch manches Eheglück zerstört — manche Hölle der Einsamkeit geschaffen. „Viele Ehefrauen sind eingemauerte Nonnen“, sagt Gerhart Hauptmann einmal.

Viele Verbitterung, Verzweiflung und Disharmonie könnte vermieden, viel Lebenskraft und Freude erhalten, manche Ehe gerettet werden, wenn stärker als die bloß sexuelle jene kultiviertere Auffassung der Liebe würde, welche die menschliche Liebesfähigkeit überhaupt zu steigern, die Liebe zum immer vollendeteren Ausdruck der ganzen Persönlichkeit zu machen bemüht ist. Das „Stirb und Werde“ gilt für beide — für Mann und Frau. Wo aber dieses ewige Werden, Sich-Entwickeln ist, wie bei jedem geistigeren Menschen, da ist auch die „ewige Jugend“, die Schleiermacher lehrte, die liebesfähig und liebenswürdig erhält. — —

Seit dem Ausbruch des Krieges stehen viele unter uns unter dem tief erschütternden Eindruck, der steten Frage: wie es denn möglich ist, daß sogenannte Kulturvölker noch so sinnlos Leben und Glück der Menschen vergeuden, einander soviel Grausames zufügen können? Diesen tief beschämenden Tiefstand bekämpfen, ausrotten zu helfen, scheint uns seit jenem Moment eine der dringlichsten Aufgaben.

Auf die Zusammenhänge zwischen verdrängter Sexualität und Grausamkeit einzugehen, ist hier nicht mehr die Zeit. Nur soviel darf ich noch sagen: wenn wir unsere Kraft zugleich mit dem Kampf gegen den Krieg — der Bewegung für Sexualreform auch heute noch — wie seit einem Vierteljahrhundert — widmen, so geschieht es aus der Erkenntnis heraus, die unser großer Lehrer Nietzsche einmal so wundervoll formuliert hat:

„Seit es Menschen gibt, hat sich der Mensch zu wenig gefreut — das — o meine Brüder — ist unsere Erbsünde! Und lernen wir besser, uns zu freuen, so verlernen wir am besten, Wehe zu tun und Wehes auszudenken!“

Es ist unsere Aufgabe, es ist die Aufgabe der Sexualreform, der Sexualwissenschaft, zu lehren, wie man sich besser des Lebens freut.



Quelle: Helene Stöcker, „Die Ehe als psychologisches Problem“, Die Neue Generation 25, Nr. 10, 1929, S. 271-82.

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