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M. M. Gehrke und Rudolf Arnheim, „Das Ende der privaten Sphäre” (1930)

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Antwort an M. M. Gehrke von Rudolf Arnheim

M. M. Gehrke betont, daß sie sich jeder Stellungnahme enthalte und nur konstatiere, aber sie spricht nur vom Unangenehmen, nur von den Geräuschen der Terrier, Taubers und Auspuffe, die einem im Zeitalter eines von den Ingenieuren konstruierten Kollektivismus der liebe Nachbar auf den Hals jage. Als ob nicht auch liebenswürdigere Geräusche von Mensch zu Mensch dringen. Sie tritt in unsre Zeit, wie jemand, der lange unter Dach und Fach geborgen gewesen ist, in einen Platzregen; sie spannt den Schirm auf und befürchtet von der Zukunft, sie werde ihr auch noch den Schirm nehmen.

„Kollektivismus“ ist ein gefährlicher weil changierender Begriff. Kollektivismus ist nicht ein Erzeugnis der Technik oder des Zusammenlebens in Städten, er findet sich vielmehr in reinster Form am ersten Anfang der Kultur, bei den Naturvölkern und bei den Tieren. Die Entwicklung und Spezialisierung der menschlichen Geistesarbeit, die zunehmende Arbeitsteilung, der Zerfall der Gemeinschaft in Klassen verschiedener Bildungs- und Einkommensstufe zerstörte den Kollektivismus, und grade die von Gehrke zitierte Fabrikarbeit, die äußerlich betrachtet gegenüber dem Werkstättenhandwerk die Zusammenrottung großer Massen bringt, hat einen echten Kollektivismus, eine Zusammenarbeit vernichtet, die zur Zeit der Zünfte selbstverständlich waren.

Denn Kollektivismus ist nicht gleich Zusammenrottung. Die Großstädter, die einander auf den Leib und auf die Seele rücken, führen nicht mehr Gemeinschaftsleben als die Sardinen in der Büchse. Sie leben nicht miteinander, sie stören sich. Kollektivismus ist das nicht, sondern der wäre nur die schönste und zweckmäßigste Manier, sich mit diesem Übelstand abzufinden.

Im übrigen gibt es stärkere Angriffe auf das Privatleben als die Rabitzwand und das Boschhorn. Es wäre hier von der allgemeinen Vertrustung unsrer Kulturproduktion zu sprechen, von der Normierung der Gebrauchsgegenstände und der Nahrung, vom Unterhaltungsmonopol der Fernhör- und Fernseh-Zentralen, gegen die man sich nicht nur, was Gehrke betont, wird wehren müssen sondern auf die man angewiesen sein wird ... wer weiß, ob man in zwanzig Jahren am Abend nicht nur ein einziges Theaterstück, dies aber in allen Wohnungen des Reiches wird hören können, es sei denn, daß ein Kommerzienrat seine Freunde in sein Privattheater einladet. Wie sich damit abfinden?

Der Widerstreit zwischen Individuum und Gesamtheit hatte zuletzt eine Lösung gefunden, die sehr zum Nutzen unsrer Arbeit war, aber eine Verärmlichung des Lebens gebracht hatte. Tapezierte Mauern und ein Bankkonto boten genügend Schutz für Studien, die im Treibhaus prächtig gediehen, Wissenschaften und Künste auf den Gipfel führten. Aber die Mehrzahl der Volksgenossen lebt ohne Bildung und Kultur, bis ebendieselbe Wirtschaftsform, die dies Analphabetentum hervorgerufen, nun durch die Vertrustung alles Bedarfs die Wände niederreißt und die Gesamtheit der Volksgenossen sei es zur Kultur, sei es zum Plebejertum führt. Wer bisher in aller Privatruhe sich selbst mit guten Dingen und damit eben diese guten Dinge gepflegt, sieht sich gezwungen, auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit Rücksicht zu nehmen, weil ihm die individuellen Bezugsquellen sachte abgeschnitten werden. Und er sieht sich aus Eigennutz auf einen Altruismus angewiesen, der höchst nützlich werden kann. Denn da nun gleiches Brot für alle gebacken wird, liegt es in seinem eignen Interesse, auf die Besserung des Gebotenen zu sinnen und die Aufnahmeorgane der Masse zu veredeln, damit die allgemeine Kost auch bei mehr Gehalt noch bekömmlich sei. Diese Notwendigkeit wird allerdings der Kulturarbeit auf lange hinaus gewaltigen Schaden bringen, und es ist kein Vergnügen zu sehen, wieviel Barbarei und Vergröberung zum Beispiel das Sowjetsystem in die Kunst und die Wissenschaft hineinträgt. Aber sie weckt zugleich — vom egoistischen Standpunkt des Individuums aus gesehen — die verkümmerten Freuden am Leben in der Gemeinschaft, am Helfen, am Austausch. Sie wird den geistig Produktiven das Vergnügen des Lehrens, des Schenkens gewähren, eine gute Beigabe zu dem unfrohen Fanatismus, den die Einsamkeit der Studierstube so häufig mit sich bringt. Und sie wird, wie an unsern Zeitgenossen deutlich zu sehen, die Verlockung bringen, den Geist zu verraten und sich im Schutze wohliger, einschläfernder Kameradschaftlichkeit Vergnügungen hinzugeben, auf die der Massenmensch heute noch angewiesen ist, die aber den Kultivierten depravieren. Eine nützliche Aufstörung: die allzu gefestete Position der Verwöhnten wird erschüttert werden, sich unter erschwerten Umständen bewehren und nicht nur für die Sache sondern auch für den Nebenmenschen fruchtbar werden müssen. Und in den mit Entengrütze bedeckten Weiher, in dem eine wimmelnde Masse ihr Leben führte, werden Sonnenstrahlen und die aufregenden Düfte neuartigen, gefährlichen Futters fallen. Es lohnt das Unbehagen!



Quelle: M.M. Gehrke und Rudolf Arnheim, „Das Ende der privaten Sphäre”, Die Weltbühne 26, Nr. 2 (7. Januar 1930), S. 61-64; nachgedruckt in Die Weltbühne – Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918-1933. 26. Jahrgang 1930. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag, 1978, S. 61-64.

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