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Felix Gilbert über die Nachwirkungen der Revolution (Rückblick 1988)

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Die neue preußische Regierung setzte einen neuen Generalintendanten des Staatstheaters ein, und so wurden in einem der schönsten klassizistischen Bauten Berlins, dem Schauspielhaus von Schinkel, die Stücke der deutschen Klassiker in revolutionären Inszenierungen gezeigt: Schillers »Wilhelm Tell«, der gewöhnlich vor einer Kulisse gespielt worden war, auf die man schneebedeckte Schweizer Alpen und Gebirgsseen gemalt hatte, wurde nun auf einer kahlen Treppe gegeben, so daß nichts die Aufmerksamkeit des Publikums von der politischen Botschaft ablenkte.

Doch das wichtigste waren natürlich die expressionistischen Werke zeitgenössischer Autoren, die Titel trugen wie »Vatermord« oder »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig«; sie hatten entweder einen politischen Gehalt und klagten die Ungerechtigkeit der Gesellschaft oder das Elend der Unterdrückten an und zeigten die Verzweiflung der Massen, oder sie waren psychologisch und verwischten die Grenzen zwischen dem Unbewußten und der Realität.

Ich vermute, daß ich zu den wenigen Menschen gehöre, die eine der ersten Aufführungen von Brechts »Trommeln in der Nacht« gesehen haben. Unter den Schriftstellern, die wir damals aufregend fanden, ist Brecht wahrscheinlich der einzige, der noch immer bekannt ist; Hasenclever, Bronnen und Toller, die damals ebenfalls in aller Munde waren, sind nahezu vergessen. Der, den ich am meisten liebte, ist wahrscheinlich noch mehr vergessen als die anderen: Fritz von Unruh, Sohn eines preußischen Generals, in einem Kadetten-Corps erzogen, ein Offizier, der ein Gegner von Krieg und Gewalt wurde, ein Freund Walter Rathenaus. Er brachte vielleicht besser als irgend jemand sonst die Atmosphäre der Zeit zum Ausdruck – ihre revolutionäre Hoffnung und ihren völligen Mangel an Wirklichkeitssinn; ich weiß die Worte noch auswendig, mit denen er eines seiner Stücke beschließt und die seinen Glauben verkünden an eine »Kraft, die aus neuer Liebe neue Menschen schafft«.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag, 1989, S. 50-52.

Quelle des englischen Originaltexts: Felix Gilbert, A European Past. Memoirs, 1905-1945. New York and London: W.W. Norton & Company, 1988, S. 42-44

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