GHDI logo

Ein neuer Regierungsstil (22. November 2006)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Vorsichtig wird aus dieser Wahrnehmung der Vorwurf abgeleitet, wieder einmal würden den Bürgern Motive, Grundsätze und Ziele der Regierungspolitik nicht ausreichend erklärt. Im Sommer hatten die drei Parteivorsitzenden der großen Koalition in Bayreuth verabredet, es anders und besser zu machen. Die großen Linien der Koalitionsregierung sollten deutlich werden und die Spitzenpolitiker nicht immer nur nächtens über Referentenentwürfe sprechen müssen. Noch ist es nicht ganz anders geworden.

Kommt die Rede auf den Niedergang der Union und das geringe Ansehen der Koalition in den Meinungsumfragen, so fehlt es nicht an Verweisen auf das diffuse Bild, das die große Koalition in der Öffentlichkeit bietet. Vor allem die Art der Auseinandersetzungen über die Gesundheitspolitik gilt als Zeichen der Schwäche. Innerhalb der Union wird auf die Kompromisse verwiesen, die die Partei beim Antidiskriminierungsgesetz eingegangen ist. Derzeit scheint es so, als habe der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers im Bündnis mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber den programmatischen Teil der Politik übernommen. Rüttgers' Bestreben, das sozialpolitische Profil der CDU zu schärfen, ist nicht nur von parteitagstaktischen Erwägungen motiviert. Die empörten Reaktionen der SPD-Spitze kennzeichnen die Auswirkungen auf das Klima der großen Koalition. Sollte es bei den Vorstellungen der nordrhein-westfälischen CDU bleiben, wird ein Teil der politischen Führungsarbeit der Koalition ausgelagert – hin zu den Ländern.

Das erste Jahr ihrer Kanzlerschaft hat Frau Merkel ohne personelle Blessuren überstanden – nimmt man das Zerwürfnis mit dem FDP-Vorsitzenden Westerwelle einmal aus. Das ist gegenwärtig nicht von Bedeutung und könnte sich allenfalls später einmal auswirken. Nicht ein Minister wurde entlassen oder ging von sich aus, was nicht selbstverständlich ist: In Schröders erstem Jahr waren es gleich drei. Die weiblichen SPD-Minister, die schon mit Schröder am Kabinettstisch saßen, sind zufriedener als früher. Die Beratungen verlaufen unter der Leitung von Frau Merkel weniger entlang einer von Männern bestimmten Hackordnung, und niemand wird mehr in den Sitzungen vor den Kollegen abgefertigt – was dann früher gerne als „Machtwort“ des Kanzlers kolportiert wurde. Das Einvernehmen unter Frauen sucht Frau Merkel auch im Bundestag zu dokumentieren, wenn sie auf der Regierungsbank mit Kabinettskolleginnen sogar minder bedeutender Ressorts das Gespräch sucht. Freilich verlaufen die Sitzungen auch weniger strukturiert, und erste Stimmen werden laut, es werde doch zu viel herumgeredet, sonntags in einer Kabinettssitzung über die Europapolitik etwa, ohne daß etwas zu entscheiden gewesen sei.

Die Bundeskanzlerin redet nicht überheblich und schlecht über andere. Ärger über Verteidigungsminister Jung (CDU), weil dessen öffentliche Äußerungen unterschiedliche Perspektiven offenbarten? Ärger über Wirtschaftsminister Glos (CSU), weil der zum falschen Zeitpunkt eine neue Debatte eröffnete, die dem Koalitionsfrieden zuwiderlief? Mit beiden Ministern versteht sich Frau Merkel im Grundsatz. Punktuelle Kritik kleidet sie in das Gewand wohlmeinender Ratschläge. In anderen Fällen ist sie nicht ganz so frei. Mit Arbeitsminister Müntefering scheint sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut zu haben, das schon zu Lasten des Vizekanzlers ging – in dessen Partei. Sogar mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Struck, der die Führungsqualitäten Frau Merkels am lautesten und ganz öffentlich in Zweifel zog, hat die Bundeskanzlerin „ein Bier“ getrunken. Vielleicht haben die beiden über vergleichbare Probleme gesprochen. Seither können beide die Leistungen loben, die die Koalition bisher erbracht hat – die Grundzüge einer Gesundheitsreform, die Absprachen über die Reform der Unternehmenssteuer, die Verabschiedung der Föderalismusreform und die Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik zählen dazu. An diesem Mittwoch vor einem Jahr wurde Frau Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt. Sie wird ihre Politik in der laufenden Haushaltsdebatte des Bundestages erläutern.



Quelle: Günter Bannas, „Sie inszeniert sich nicht. Angela Merkels Stil“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2006, S. 3. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite