GHDI logo

Die Qual der Wahl (14. Oktober 1994)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Bleibt die Frage, welche Koalition eigentlich die größte Handlungsfähigkeit hätte. Die verlängerte christlich-liberale Koalition mit ihrem überlebten Erbhof-Prinzip bei der Ressortverteilung, den bevorstehenden Kämpfen und Krämpfen um die Kohl-Nachfolge? Eine rotgrüne Koalition, in der leicht die Romantiker beider Parteien den Realpolitikern über den Kopf wachsen könnten? Eine rotgelbgrüne Ampelkoalition, wo Wirtschaftsliberale und Ökologiebewegte einander dauernd in den Haaren lägen? Oder eine große Koalition, die sich nach Jahren notgedrungenen Zusammenwirkens von Bundesratsmehrheit und Bundestagsmehrheit zu dem Zwecke ehrlich machte, den Sozialstaat zu sanieren?

Niemand kann dem Wähler die Qual der Wahl abnehmen. Sie ist größer geworden, weil die ausfächernde Spezialisierung unsere Gesellschaft mittlerweile wirklich in eine Nischengesellschaft verwandelt hat: Jeder sitzt in seiner Ecke und frönt dem eigenen Vorteil und Vorurteil. Keine Partei kann da noch das ganze Interessen- und Prioritätenspektrum abdecken. Jeder einzelne muß seine persönlichen Akzente setzen und danach sein Kreuz auf den Stimmzettel anbringen: im Zweifel für das kleinere Übel. Kaum einer wird es ohne Zähneknirschen tun können.

Die Wählerinnen und Wähler liefern am 16. Oktober die Stücke des Puzzles. Die Politik wird sie hernach zusammensetzen müssen. Was immer dabei herauskommen mag – bei der Hälfte der Nation wird ein Gefühl des Unbehagens und Ungenügens bleiben.



Quelle: Theo Sommer, „So wenig Aufbruch war noch nie. Deutschland vor einer schwierigen Wahl: Die Regierung ist erschöpft, die Opposition zeigt wenig Kraft“, Die Zeit, 14. Oktober 1994.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite