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Bundespräsident Johannes Rau ruft zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf (12. Mai 2000)

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V.

Das Zusammenleben ist auch schwierig und es ist anstrengend. Wer das leugnet oder nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft unglaubwürdig.

Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.

Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen. Schwerer ist das da, wo sich immer mehr verändert, wo man als Einheimischer die Schilder an und in den Geschäften nicht mehr lesen kann, wo in einem Haus Familien aus aller Welt zusammenwohnen, wo sich im Hausflur ganz unterschiedliche Essensgerüche mischen, wo laut fremde Musik gemacht wird, wo wir ganz andere Lebensstile und religiöse Bräuche erfahren.

Schwer wird das Zusammenleben dort, wo sich manche alteingesessene Deutsche nicht mehr zu Hause fühlen, sondern wie Fremde im eigenen Land.

Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen, ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.

Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.

Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht.

Ich kann verstehen, wenn nicht nur Mädchen und junge Frauen Angst vor Anmache oder Einschüchterung durch Cliquen von ausländischen Jugendlichen haben.

Wer die Sorgen und Ängste nicht ernst nimmt, redet über die Köpfe der Menschen hinweg und trägt zu einer Haltung bei, die lautet: Ja, die haben gut reden.

Wo Sorgen und Ängste berechtigt sind, muss versucht werden, Abhilfe zu schaffen. Wir müssen erklären und erklären können, warum es nicht anders geht, jedenfalls nicht besser.

Wo Sorgen und Ängste nicht berechtigt sind, muss informiert und aufgeklärt werden.

Im Leben ist es oft wie in der Schule: Das falsch Verstandene behält man leider am Besten. Fehler setzen sich am hartnäckigsten fest.

Damit Vorurteile sich nicht festsetzen und weiter verbreiten, muss man ihnen immer wieder widersprechen.

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