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Bundespräsident Johannes Rau ruft zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf (12. Mai 2000)

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Viele werden nicht vergessen, auf wie viel Ablehnung sie nicht nur in Dörfern und Kleinstädten gestoßen sind – obwohl sie schwerstes Leid getragen hatten, obwohl sie dieselbe deutsche Sprache sprachen, obwohl sie zur gleichen Kultur gehörten, oft sogar zur selben Konfession wie ihre neuen Mitbürger.

Integration braucht langen Atem und Geduld. Sie braucht die Offenheit der angestammten Bevölkerung. Noch mehr braucht sie aber – und das gilt heute besonders – die Bereitschaft und die Anstrengung der neu Dazukommenden – die Bereitschaft, nicht nur dazu zu kommen, sondern auch dazu gehören zu wollen.


IV.

Die Begegnung mit Fremdem, mit Menschen und Dingen, die wir nicht kennen, ist voller Spannung. Sie ist bestimmt von gemischten Gefühlen: Von Neugier und Abwehr, von Willkommen und Abgrenzung, von Unverständnis und langsamem Vertrautwerden.

Zuwanderung ist stets beides: Belastung und Bereicherung. Man kann über das eine nicht sprechen, ohne auch das andere zu sehen und zu nennen.

Viele Vorteile, die uns die Zuwanderung und der Kontakt mit anderen Kulturen gebracht haben, nehmen wir gar nicht mehr wahr, weil sie für uns inzwischen selbstverständlich sind.

Ohne die damals so genannten Gastarbeiter hätte die Bundesrepublik nicht den wirtschaftlichen Aufschwung gehabt, den sie tatsächlich erlebt hat. Wir haben dringend benötigte Arbeitskräfte gerufen und sie sind gekommen. Sie haben wesentlich zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beigetragen. Sie haben durch Überweisungen nach Hause übrigens auch viel zum wirtschaftlichen Aufschwung in ihren Heimatländern beigetragen.

Wir sind kulturell reicher geworden: Musik aus anderen Ländern hat vielen von uns neue Welten geöffnet. Wir hören heute vieles mit Freude, was uns noch vor zwei oder drei Jahrzehnten fremd war. Die Ausstellung „Heimat Kunst“ hier im Haus und die damit verbundenen Projekte zeigen, dass Musiker, Sänger, Maler und Schriftsteller aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen zu neuen künstlerischen Ausdrucksformen kommen.

Ganz nebenbei: Wir essen heute auch anders. Die Einwanderer haben ihre Rezepte mitgebracht, ihre Spezialitäten, ihre Gewürze und ihre Getränke. Pizza und Döner sind aus unseren Straßen nicht mehr wegzudenken. Olivenöl und Fladenbrot gehört für viele inzwischen zum täglichen Essen.

Deutschland gehört heute zu den buntesten und offensten Ländern der Welt. Wir haben an Lockerheit, an Erfahrungsmöglichkeiten und an toleranter Einstellung gewonnen.

Es stimmt aber auch, dass manche Menschen diesen Gewinn nicht sehen – oder nicht sehen können. Sie erleben und erfahren oft stärker die Probleme, die eine so große Zahl an Zuwanderern ja auch tatsächlich bedeuten.

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