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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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am 12. Aug.

Gewiß Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern eine wunderbare Scene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm um Abschied von ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an in’s Gebirge zu reiten, von woher ich dir auch jetzt schreibe und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen. Borge mir die Pistolen, sagte ich, zu meiner Reise. Meinetwegen, sagte er, wenn du dir die Mühe nehmen willst sie zu laden; bey mir hängen sie nur pro forma. Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu thun haben. – Ich war neugierig die Geschichte zu wissen – Ich hielt mich, erzählte er, wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bey einem Freunde auf, hatte ein paar Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht wie mir einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nöthig haben und könnten – du weißt ja wie das ist – Ich gab sie dem Bedienten sie zu putzen und zu laden; und der dahlt mit den Mädchen, will sie erschrecken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus herein an der rechten Hand, und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatte ich das Lamentiren, und die Cur zu bezahlen oben drein, und seit der Zeit laß ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht? die Gefahr läßt sich nicht auslernen! Zwar – Nun weißt du, daß ich den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht sich’s nicht von selbst, daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch! wann er glaubt etwas übereiltes, allgemeines, halbwahres gesagt zu haben: so hört er dir nicht auf zu limitiren, zu modificiren und ab und zu zu thun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bey diesem Anlaß kam er sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffallenden Geberde, druckte ich mir die Mündung der Pistole über’s rechte Aug an die Stirn. – Pfuy! sagte Albert indem er mir die Pistole herabzog, was soll das? – Sie ist nicht geladen, sagte ich. – Und auch so, was soll’s? versetzte er ungeduldig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so thöricht seyn kann sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.

Daß ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt, das ist thöricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heissen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte. Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urtheilen seyn.

Du wirst mir zugeben, sagte Albert, daß gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen aus welchem Beweggrunde sie wollen.

Ich zuckte die Achseln und gab’s ihm zu. Doch, mein Lieber, fuhr ich fort, finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwertigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädchen das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütige Pedanten lassen sich rühren und halten ihre Strafe zurück.

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