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Der Schriftsteller Martin Walser sinniert über die Schwierigkeit, mit der deutschen Schuld zu leben (11. Oktober 1998)

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Bevor man das alles als Rüge des eigenen Gewissensmangels einsteckt, möchte man zurückfragen, warum, zum Beispiel, in Goethes „Wilhelm Meister“, der ja erst 1795 zu erscheinen beginnt, die Guillotine nicht vorkommt. Und mir drängt sich, wenn ich mich so moralisch-politisch gerügt sehe, eine Erinnerung auf. Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“ Und: „Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“ Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?

In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das „negativen Nationalismus“. Daß der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bißchen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten.

Etwas, was man einem anderen sagt, mindestens genauso zu sich selber sagen. Klingt wie eine Maxime, ist aber nichts als Wunschdenken. Offentlich von der eigenen Mangelhaftigkeit sprechen? Unversehens wird auch das Phrase. Daß solche Verläufe schwer zu vermeiden sind, muß mit unserem Gewissen zu tun haben. Wenn ein Denker „das ganze Ausmaß der moralisch-politischen Verwahrlosung“ der Regierung, des Staatsapparates und der Führung der Parteien kritisiert, dann ist der Eindruck nicht zu vermeiden, sein Gewissen sei reiner als das der moralisch-politisch Verwahrlosten. Aber wie fühlt sich das an, ein reineres, besseres, ein gutes Gewissen? Ich will mir, um mich vor weiteren Bekenntnispeinlichkeiten zu schützen, von zwei Geistesgrößen helfen lassen, deren Sprachverstand nicht anzuzweifeln ist. Heidegger und Hegel. Heidegger, 1927, „Sein und Zeit.“ „Das Gewißwerden des Nichtgetanhabens hat überhaupt nicht den Charakter eines Gewissensphänomens. Im Gegenteil: dieses Gewißwerdens des Nichtgetanhabens kann eher ein Vergessen des Gewissens bedeuten.“ Das heißt, weniger genau gesagt: Gutes Gewissen, das ist so wahrnehmbar wie fehlendes Kopfweh. Aber dann heißt es im Gewissensparagraph von „Sein und Zeit“: „Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst.“ Ich hoffe nicht, daß das gleich wieder als eine bequeme Entlastungsphrase für zeitgenössische schuldunlustige Finsterlinge verstanden wird. Jetzt Hegel. Hegel in der Rechtsphilosophie: „Das Gewissen, diese tiefste innerliche Einsamkeit mit sich, wo alles Äußerliche und alle Beschränktheit verschwunden ist, diese durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst...“

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