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Proteste in Ostdeutschland (22. August 2004)

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„Viele Leute sagen heute, sie empfänden es als unerträglich, dass ihre Lebensläufe entwertet würden, obwohl sie mit der SED nie etwas zu tun hatten“, erzählt Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD). Das gelte auch für die öffentliche Entwertung alter Strukturen: Polikliniken, die inzwischen Ärztehäuser heißen, oder Kinderkrippen, die lange als sozialistische Übertreibung verspottet wurden. „Im Osten gibt es viele Wissenschaftler, Ärzte und Arbeiter, die mir sagen: Wir waren gar nicht blöd. Aber in Westdeutschland sagen mir die Menschen nur: Die im Osten kriegen gar nix hin“, sagt Platzeck. Und so erklärt er auch die heftigen Proteste: „Da bricht etwas heraus, was sich über Jahre angestaut hat.“

Zu spüren war dies bereits im Frühjahr, als der Aufbau Ost plötzlich zum Medienthema wurde. Eine Regierungskommission sei zu dem Ergebnis gekommen, der Aufbau Ost sei gescheitert, berichtete der „Spiegel“. Der unvorstellbare Betrag von 1250 Milliarden Euro sei seit der Wiedervereinigung von West nach Ost geflossen. Das Ergebnis sei gleich null. „Diese Diskussion war Gift für die Seele der Menschen in den neuen Ländern“, beklagt Manfred Stolpe (SPD), der zuständige Minister für den Aufbau Ost. Und Günter Nooke, CDU-Politiker und einst Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, meint: „Es gibt leider zu viele Menschen, die schon im Jahr 1990 die Einheit nicht wollten und sich jetzt über jede schlechte Nachricht freuen.“

In den Köpfen blieb nur eines hängen: „Ostdeutschland? Eine riesige Pleite“. In Wahrheit stellte die Kommission auch viele Erfolge seit der Wiedervereinigung heraus. „Das Wort ,gescheitert' taucht in unserem Bericht gar nicht auf“, sagt Kommissions-Chef von Dohnanyi. Und noch heute fragt er sich, wer die Behauptung von den 1250 Milliarden in die Welt gesetzt hat. Seine Kommission war es jedenfalls nicht.

Überhaupt wundert sich Dohnanyi über den Umgang mit der ostdeutschen Wirklichkeit. Der Hartz-Aufstand wäre vermeidbar gewesen. „Ich sage schon seit Jahren, dass wir in Ostdeutschland heftige Proteste bekommen werden, wenn man die Menschen belügt“, so Dohnanyi. Die Ostdeutschen seien „sehr vernünftig“. Sie hätten Offenheit und Ehrlichkeit verdient. „Weder die Regierung Kohl noch die jetzige Regierung haben den Menschen in Ostdeutschland aber die Wahrheit über die Situation gesagt“, sagt Dohnanyi.

Es sei absurd zu glauben, die neuen Länder würden schon in 15 Jahren auf dem Stand des Westens sein, wie es Stolpe gerade erst wieder prophezeit hat. „Wer so etwas sagt, kennt die Lage im Osten nicht“, hält Dohnanyi dem entgegen. Nötig seien echte Reformen. „Der Arzt muss dem Patienten die Wahrheit sagen, es sei denn, er hält ihn für todgeweiht. Der Osten ist chancenreich.“

Dort werden morgen wohl über hunderttausend Menschen demonstrieren. „Wir haben es satt, dass die Politiker Hartz IV immer herunterspielen“, sagt Rainer Roth. „Hartz IV muss weg.“ Aber es geht längst um mehr.

Mitarbeit: Jens Krüger



Quelle: Cornelia Schmergal, „Aufstand Ost“, Welt am Sonntag, 22. August 2004.

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