GHDI logo

Ein ausgebürgerter ostdeutscher Dissident erläutert die Friedensbewegung (21. Juli 1983)

Seite 5 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Welche Rolle haben die Ereignisse in Polen in der DDR gespielt?

Das war sehr vielschichtig, das hat sehr viele Hoffnungen hervorgebracht, gerade bei der jungen Generation. Ein großer Teil der Friedensbewegung versteht sich als gesamtgesellschaftliche Alternativbewegung. Die Leute sind bereit, auf die normale Entwicklung, Karriere usw. zu verzichten, ganz einfach aus der Bedrohung heraus. Das entwickelt sich dann weiter in einem Drang nach Entfaltung der Persönlichkeit, was nur in demokratischen Verhältnissen möglich ist. Und da wird jede Entwicklung in diese Richtung natürlich begrüßt. Polen war wie die DDR: Wahlergebnisse von 99%. Und plötzlich lernen die Menschen, sich selber zu äußern. Das hat viele optimistisch gestimmt, hat Hoffnungen für die DDR möglich gemacht. Auf der anderen Seite wird natürlich gesehen, daß die DDR nicht Polen ist. Noch geht es ihnen gut, materiell meine ich.


Wie wird es jetzt in Jena weitergehen? Die Friedensgemeinschaft hat sehr viele ihrer Mitglieder verloren?

Es gibt genug Leute, die weitermachen. Es ist zwar eine Gemeinschaft, also keine Organisation mit Vorsitzenden usw., aber trotzdem ist eine Struktur da. Wir haben uns eine Konzeption gegeben. Frieden ist für uns nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern Geschehen, lebbar immer in der konkreten Situation. Das heißt auch der Versuch, sich inhaltlich auseinanderzusetzen, einzuwirken in die Gesellschaft. Es ist nicht so, daß wir nur ein Haufen sind, der spektakuläre Aktionen machen will.

Wir begannen in Gruppen zu arbeiten. Themen waren zuerst die Militarismusprobleme. Dann kam die Frage nach den Ursachen auf oder danach, wo das anfängt: in der Erziehung. Also hat sich eine Erziehungsgruppe gebildet. Dann fragten wir uns, was bedroht uns noch? – Natürlich das Verhältnis Mensch-Natur/Umwelt, also hat sich eine Ökologiegruppe gebildet. Dann: Viele kommen in den Knast, sind der Willkür des Staates ausgesetzt, kennen die Gesetze nicht, so kam es zu einer Gruppe, die sich mit rechtlichen Problemen beschäftigt. Oder wir haben uns gefragt: Sind wir allein in der DDR? Überall gibt es solche Gruppen, wir müssen Kontakte aufbauen, Informationen austauschen. Jeder hat in die Arbeit das eingebracht, was er konnte. Das waren auch künstlerische Formen. Wir haben zum Beispiel viel mit Phototechniken gearbeitet, Postkarten erstellt zur Friedensthematik, die wir dann in der DDR verschickt haben.

Das alles besteht nach wie vor. Da sind Leute weggegangen, auch solche, die tragend waren, aber deswegen existiert all das weiter. Auch wenn man zahlenmäßig nicht erfassen kann, wieviele Leute zur Friedensbewegung gehören, weiß man doch, daß etwas in den Leuten drinsteckt, daß zunehmende Aufrüstung und Militarisierung, zunehmende Gewalt des Staates, aber auch ganz konkret z.B. mein Rausschmiß etwas bewirken, so daß die Leute nach Formen suchen, etwas mit anderen zusammen gegen die Bedrohung zu machen. Dadurch entstehen dann solche Gemeinschaften und zu diesen Gemeinschaften werden auch wieder neue Leute finden.



Quelle: Traude Ratsch, Interview mit Roland Jahn: „Ich persönlich bin kein Pazifist“, tageszeitung, 21. Juli 1983,
S. 9.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite