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Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas über die Bedeutung einer kritischen Erinnerung (7. November 1986)

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Vierzig Jahre danach ist also der Streit, den Jaspers seinerzeit mühsam schlichten konnte, in anderer Form wieder aufgebrochen. Kann man die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches antreten, kann man die Traditionen der deutschen Kultur fortsetzen, ohne die historische Haftung für die Lebensform zu übernehmen, in der Auschwitz möglich war? Kann man für den Entstehungszusammenhang solcher Verbrechen, mit dem die eigene Existenz geschichtlich verwoben ist, auf eine andere Weise haften als durch die solidarische Erinnerung an das nicht Wiedergutzumachende, anders als durch eine reflexive, prüfende Einstellung gegenüber den eigenen, identitätsstiftenden Traditionen? Läßt sich nicht allgemein sagen: Je weniger Gemeinsamkeit ein kollektiver Lebenszusammenhang im Innern gewährt hat, je mehr er sich nach außen durch Usurpation und Zerstörung fremden Lebens erhalten hat, um so größer ist die Versöhnungslast, die der Trauerarbeit und der selbstkritischen Prüfung der nachfolgenden Generationen auferlegt ist? Und verbietet es nicht gerade dieser Satz, die Unvertretbarkeit der uns zugemuteten Haftung durch einebnende Vergleiche herunterzuspielen? Das ist die Frage der Singularität der Naziverbrechen. Wie muß es im Kopf eines Historikers aussehen, der behauptet, ich hätte diese Frage ‚erfunden’?

Wir führen den Streit um die richtige Antwort aus der Perspektive der ersten Person. Man soll diese Arena, in der es unter uns Unbeteiligte nicht geben kann, nicht verwechseln mit der Diskussion von Wissenschaftlern, die während ihrer Arbeit die Beobachtungsperspektive einer dritten Person einnehmen müssen. Von der komparativen Arbeit der Historiker und anderer Geisteswissenschaftler wird die politische Kultur der Bundesrepublik gewiß berührt; aber erst durch die Schleusen der Vermittler und der Massenmedien gelangen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit, mit einer Rückkehr zur Beteiligtenperspektive, in den öffentlichen Fluß der Traditionsaneignung. Erst hier können aus Vergleichen Aufrechnungen werden. Die ehrpusselige Entrüstung über eine angebliche Vermengung von Politik und Wissenschaft schiebt das Thema aufs ganz falsche Gleis. Nipperdey und Hildebrand vergreifen sich entweder in der Schublade oder im Adressaten. Sie leben anscheinend in einem ideologisch geschlossenen, von der Realität nicht mehr erreichbaren Milieu. Es geht ja nicht um Popper versus Adorno, nicht um wissenschaftstheoretische Auseinandersetzungen, nicht um Fragen der Wertfreiheit – es geht um den öffentlichen Gebrauch der Historie.

Aus Vergleichen werden Aufrechnungen

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Ich akzeptiere den Hinweis, daß nicht ‚Vertreibung’, sondern ‚Vernichtung’ der Kulaken die zutreffende Beschreibung dieses barbarischen Vorgangs ist; denn Aufklärung ist ein Unternehmen auf Gegenseitigkeit. Aber die in der breiten Öffentlichkeit vorgeführten Aufrechnungen von Nolte und Fest dienen nicht der Aufklärung. Sie berühren die politische Moral eines Gemeinwesens, das – nach einer Befreiung durch alliierte Truppen ohne eigenes Zutun – im Geiste des okzidentalen Verständnisses von Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung errichtet worden ist.



Quelle: Jürgen Habermas, „Vom öffentlichen Gebrauch der Historie: Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf“, Die Zeit, 7. November 1986.

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