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Robert Havemanns „zehn Thesen” zum dreißigsten Jahrestag der Gründung der DDR (1. September 1979)

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4. Noch im Jahre 1968 – also 19 Jahre nach Gründung der DDR – wurden wichtige Grundrechte, die in ihrer ersten Verfassung garantiert waren, in einer neuen Verfassung aufgehoben, so das Streikrecht und das Recht auf ein unabhängiges Gericht, vor dem der Bürger Klage gegen Maßnahmen der Organe des Staates führen kann. In der neuen Verfassung erscheint auch zum ersten Mal ein Passus, in dem die Partei als die führende Kraft und Grundlage des Staates bezeichnet wird. [ . . . ] Die SED ist damit die Staatspartei. In die neue Verfassung wurde zwar der Artikel 27 der alten über die Freiheit der Meinungsäußerung in seinem vollen Wortlaut übernommen. [ . . . ] Aber in dem im Juni dieses Jahres noch verschärften Paragraphen 106 des Strafgesetzbuches über die „staatsfeindliche Hetze“ wird der Artikel 27 praktisch außer Kraft gesetzt. Jede „Diskriminierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse wird mit Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren bedroht. Aus der Praxis der Gerichte geht hervor, daß unter „Diskriminierung“ nahezu jede Kritik an der Politik der Partei und der Regierung verstanden wird, also gerade das, was in aller Welt unter der Freiheit der Meinungsäußerung verstanden wird. „Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“, hat es Rosa Luxemburg ausgedrückt. Das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom Juni dieses Jahres enthält darüber hinaus noch eine Unzahl von Bestimmungen, durch die fast alle bisher noch bestehenden Möglichkeiten des öffentlichen Andersdenkens mit harten Strafen bedroht werden.

5. Es ist sehr schwer abzuschätzen, wie groß in der DDR heute die Zahl derer ist, die sich auch bei uns wieder nach der Restauration der alten Klassenherrschaft sehnen und das kapitalistische System der BRD dem realen Sozialismus vorziehen. Die Unterdrückung jeder von den Organen der Partei und des Staates unabhängigen Kritik, die Maßregelung kritischer Schriftsteller, die Nichtzulassung einer Opposition in der Volkskammer, das Nichtbestehen auch nur eines einzigen kritischen und unabhängigen Presseorgans, die Bedingungen, unter denen die Kandidaten für die Volksvertretungen nominiert und gewählt werden, das praktisch (außer für Rentner und eine beschränkte Zahl von Privilegierten und Funktionären) bestehende „Westreise“-Verbot – all dies und mehr rufen den Eindruck hervor, daß die Partei- und Staatsführung der DDR die Zahl ihrer Gegner für groß und bedrohlich hält. Nach wie vor hält man die „Mauer“ geschlossen. Das Mißtrauen, es könnte sonst wieder zu einer Massenflucht kommen wie 1961, ist groß.

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