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Ein liberaler Intellektueller beschreibt die „Last, Deutscher zu sein” (2. September 1983)

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Wenig Gemeinsames

Dann fehlt etwas. Das Wort „Vaterland“ können wir kaum noch aussprechen. „Sterben für Bonn“ wäre den meisten von uns lächerlich – was auch sein Gutes hat. Wir sind Weltbürger, Kosmopoliten, hervorragend in der Kenntnis fremder Sprachen, jenseits der Staatsgrenzen reisend wie sonst keiner.

Aber wenn wir darüber nachdenken, was es denn eigentlich heute bedeutet, Deutscher zu sein, was das meint, wo der Inhalt der Aussage ist, dann fällt uns als definierbares Gemeinsames nur die Geschichte ein, die Kultur und die Sprache. Lauter schwankende Grundlagen. Hitlers Erben sind wir, ob wir wollen oder nicht. Mozart, der Österreicher, und Kafka, der Tscheche, und viele andere „Kulturträger“, um die wir mit der DDR konkurrieren, Luther, Schiller, Goethe, eignen sich kaum als Träger bundesrepublikanischen Deutschbewußtseins. Und aus der gemeinsamen Sprache werden eben auch vorschnelle Schlüsse gezogen auf eine Gemeinsamkeit, die sich Ostdeutsche, Österreicher und Schweizer mit guten Gründen verbitten.

Kurioserweise wird die Frage der nationalen Identität nur von wenigen Deutschen als besonders drängend empfunden. Die meisten arrangieren sich: in der Familie, im Freundeskreis, in der Solidarität der Betriebs- oder Berufsgemeinschaft, in der Nachbarschaft. Und alle haben viele ausländische Freunde. Es ist uns beinahe egal, ob wir als Eskimos wieder auf die Welt kommen oder als Deutsche; um so mehr, als keiner von uns glaubt, noch einmal wieder „auf die Welt“ zu kommen.

Wenn Wunschvorstellungen geäußert werden, läßt sich ein leichtes Pathos schwer vermeiden. Sei's drum: Deutsch sein bedeutet für uns, uns deutscher Kunst und Wissenschaft noch bewußt zu sein, unsere deutsche Sprache zu pflegen, unsere Familie nicht zu verlieren, unsere Heimat . . . da ist sogar „zu lieben“ erlaubt, und hinzustreben auf jene „Vereinigten Staaten von Europa“, in die wir mehr einbringen könnten als die immer wieder von uns geforderte D-Mark: zum Beispiel den, wenn auch sicher nicht ganz freiwilligen, Verzicht auf ein Nationalbewußtsein.



Quelle: Rudolf Walter Leonhardt, „Von der Last, Deutscher zu sein“, Die Zeit, 2. September 1983.

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