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Protestbewegung vermeintlich am Ende (15. März 1975)

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Krisenrealität und wachsendes Krisenbewußtsein bleiben auch auf die Entwicklung der Protestbewegung nicht ohne Einfluß. Im Gegensatz zu älteren sozialrevolutionären Bewegungen war sie von Anfang an kein Produkt des Mangels, sondern des Überflusses. Die Krise dieser Wohlstandsgesellschaft ist daher immer auch ihre eigene Krise; denn den „Luxus" eines Protests gegen den Wohlstand und seine Folgen kann sich nur eine prosperierende Gesellschaft leisten. Das Ende der Wachstums- und Wohlstandsideologie bedeutet auch das Ende gerade jener Erscheinungen, an welchen sich der Protest entzündet hatte.

Ein Weiteres kommt hinzu: der wachsende Druck auf die Universitäten infolge des Massenproblems. Der Numerus clausus, mit dem sich in Kürze mit Sicherheit die Studierenden aller Fächer konfrontiert sehen werden, bewirkt schon jetzt, daß sich einander zunächst um den eigenen Studienplatz und das eigene Fachstudium bekümmert, so daß kaum noch Energien für weiterreichende Aktivitäten freibleiben.

Auf Grund dieses zusätzlichen Drucks sieht sich der Protestierende erstmals in vollem Umfang unter dem Verdikt der allgemeinen Krisenhaftigkeit. Er hat teil an der allgemeinen Angst vor der Zukunft, auf ihm lasten die nämlichen Zweifel und Ungewißheiten, die alle plagen. Es steht daher zu erwarten, daß seine Reaktionen von denen seiner sozialen Umwelt nicht wesentlich abweichen. Auch er wird wohl zunächst auf die befürchtete Situation einer allgemeinen Knappheit der Mittel mit einer Restriktion seiner Erwartungen und Ansprüche reagieren – auch und gerade auf politischem Gebiet: Er wird, ganz anders als in Zeiten problemloser Prosperität, viel eher bereit sein, mit Widersprüchen und Kompromissen zu leben.

Was also die Prognose über die weitere Entwicklung der einstigen Protestbewegung betrifft, so ist für die nähere Zukunft ein neues Biedermeier viel wahrscheinlicher als die Neuauflage des Sturmlaufs auf die große Freiheit. Ob unsere Epoche, ob in Sonderheit die Erben der einstigen Protestgeneration zu jener „Heiterkeit auf dem Grunde der Schwermut“ finden, welche der Literaturhistoriker Paul Kluckhorn dem historischen Biedermeier der Vormärzzeit zuschrieb, bleibt abzuwarten. Spuren des Müden, Hypochondrischen, privatistische Neigungen, ein guter Schuß Sicherheitsdenken und die Tendenz, sich resignativ, wenngleich ohne Panik ins Unvermeidliche zu schicken, sind in den aktuellen Leitbildern jedenfalls unschwer zu entdecken.



Quelle: Bernd Guggenberger, „Rückkehr in die Wirklichkeit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 1975.

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