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Protestbewegung vermeintlich am Ende (15. März 1975)

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Das verheißungsvolle Aufbegehren gegen die Zwänge der sich dem Menschen entfremdenden Welt der Technik und Wissenschaft war jedoch nur ein kurzer Flirt mit der Freiheit. Bei den Anhängern des Subkulturismus schien mit einmal hinter der vielfach berechtigten Kritik an der Industriegesellschaft ein privatistischer Kulturpessimismus durch. Die blinde und verzweifelte Flucht vor der Wirklichkeit und der Zukunft hat zur totalen Ausgliederung jedes übergreifenden, sozialen Bezuges zur Mitwelt geführt.

Etwas anders zeigt sich die Situation auf der „Gegenseite", bei den Verfechtern einer orthodoxen Kaderstrategie: Hier ist es nicht der Rückzug auf die eigene Person, welcher die Kapitulation vor den eigentlichen Aufgaben und Problemen bezeugt, die die Industriegesellschaft dem mit sozialer Phantasie begabten Bürger – gleich welcher politischen Richtung – stellt; es ist die „Flucht" in den Halt bietenden Glauben der marxistischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Denn die Teilhabe an einem über hundert Jahre alten Struktur- und Gesetzeswissen, welche das Bekenntnis zu den Gesellschaftslehren von Marx, Engels und Lenin eröffnet, hat kaum mehr etwas mit „Kritik" und „geistiger Freiheit" zu tun, um so mehr jedoch mit einem tief verwurzelten Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit und zweifelsfreier Orientierung über Abkunft und Ziel, über Sinn und künftigen Verlauf der Geschichte. In den Glauben an ein hinter dem Rücken der Beteiligten wirkendes Geschichtsgesetz, welches dem Menschen letztlich unverfügbar bleibt, geht nämlich immer auch ein Stück Angst von der Freiheit mit einem Stück Angst vor der grenzenlosen Offenheit und Unbestimmtheit der geschichtlichen Existenz.

Was also bleibt, sollte bleiben? Was gibt es zu bewahren jenseits aller Fronten und Fraktionen?

Zunächst und vor allem: Der Protest der jungen Generation hat, wohl endgültig, mit einer Reihe von Tabus aufgeräumt, die längst überständig waren. Was bis dahin oft als unaussprechlich galt, wurde ohne Zögern beim Namen genannt. Die Sprache und das Verhalten sind freier geworden, nicht immer auch toleranter; aber insgesamt wuchsen doch die Offenheit und die Bereitschaft zur Kritik. In der Gesamtbilanz haben wir dies sicher als Gewinn zu verbuchen, wenngleich die „Verluste" nicht zu übersehen sind: ein anhaltendes Unverständnis für die Notwendigkeit von Herrschaft, eine vorschnelle Verketzerung des „Formalen", der „Äußerlichkeiten" im gesellschaftlichen Umgang, der Tradition im besonderen; eine generalisierte Auflehnungsbereitschaft, welche verhindert, daß Autorität auch als Quelle der Bereicherung, der Selbststeigerung erfahren wird.

Was neu war und vielfach ungewohnt: Jene Grundhaltung moralischer Sensibilität für die Not und das Elend, die Entrechteten und Unterdrückten, jenes Gefühl der Zusammengehörigkeit dieser Welt, der universalen Betroffenheit, wo immer das Böse sich ereignet. Jedoch die vorbehaltlose Parteinahme schlug allzu leicht um in Aggressivität, Wissen in Besserwissen, berechtigte Kritik in pauschale Anklage.

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