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Kommentar zum raschen Anwachsen der Angst vor atomarer Bedrohung (15. Juni 1981)

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„Eine natürliche Reaktion auf die Erkenntnis, daß der nukleare Untergang durchaus im Bereich des Möglichen liegt, ist schnelle Verdrängung“, schreibt der britische Autor Nigel Calder in seinem Buch „Nukleare Nachtmahre“. „Ich selbst bekenne mich der bewußt hervorgerufenen Vergeßlichkeit durchaus schuldig. Wie ich so meine Kinder aufwachsen sah und vergnügt in meinem Boot segelte, versuchte ich, nicht über die Mehrfachsprengköpfe der großen Raketen nachzudenken.“

Von einer Handvoll Friedensforschern abgesehen, die über all diese Jahre hin wie lästige Trunkenbolde abgeschüttelt wurden, müßten so gut wie alle Politiker und Publizisten dieses Geständnis mitunterschreiben. Sogar die Strategen im Pentagon, in Brüssel, in Bonn, die in der ganzen Zeit nichts anderes taten, als immer neue Varianten nuklearen Grauens zum Zwecke ihrer Verhinderung zu ersinnen, sogar sie haben die Realität dieses Grauens vor sich selbst und anderen verschlüsselt und abstrahiert.

Sie haben einen Fachjargon entwickelt, der etwa die zerfetzten, verschmorten und strahlenverseuchten Zivilpersonen, die bei einem Kernwaffen-Angriff auf ein militärisches Ziel anfallen, unter dem Begriff „Kollateralschaden“ subsumiert. Unvorstellbare Katastrophen werden zu mathematischen Quizfragen („Wie viele Sprengköpfe bleiben mir zur Vernichtung der Ballungszentren des Gegners, wenn er vorher alle meine Landraketen-Silos auslöscht?“). Das Unausdenkbare wird immer denkbarer.

Tiere, die sich einer unabwendbaren Gefahr gegenübersehen, verfallen oft auf „Übersprunghandlungen“. Wie um sich von ihrer lähmenden Hilflosigkeit abzulenken, tun sie etwas Widersinniges – sie putzen sich zum Beispiel. Ähnlich ist es in den vergangenen Jahren vielen besorgten Bürgern gerade aus der jüngeren Generation ergangen. Weil sie die Hauptgefahr Atomrüstung entweder noch gar nicht begriffen oder sich ihr gegenüber hilflos fühlten, wandten sie sich anderen Problemen zu – wichtigen Problemen und doch sekundären wie dem Umweltschutz.

So kam es zu dem Kuriosum, daß Zehntausende erbittert gegen das Kernkraftwerk Brokdorf kämpften, aber die geplante Einführung neuer Kernwaffen-Systeme in ihrem Land lange Zeit völlig ignorierten – einem Menschen vergleichbar, der in einem auf Dynamit gebauten Haus lebt, aber keine andere Sorge kennt als die Betriebssicherheit seines Toasters.

Doch das ändert sich nun. Der Streit um die „Nachrüstung“ hat die eingeschläferten Ängste geweckt, hat die schon in allen Fugen krachenden Verdrängungen und Verleugnungen aufgebrochen, hat die erste und einzige wirklich existentielle Frage für die Deutschen und ihre Nachbarn mit größerer Schärfe aufgeworfen als je zuvor.

Ein Begreifen geht durchs Land, daß es wenig Sinn macht, sich um all die anderen Probleme unserer Gesellschaft zu kümmern, wenn in der Existenzfrage dieser Gesellschaft nichts geschieht. Es macht so wenig Sinn, wie wenn ein Mann, der in ein Minenfeld geraten ist, sich über seine Altersversorgung den Kopf zerbricht.



Quelle: Wilhelm Bittorf, „Die Wiederkehr der Angst“, Der Spiegel, 15. Juni 1981.

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