Über Gewalt und passiven Widerstand spricht man auch während eines Gottesdienstes, den Pfarrer Richter aus Prezelle auf „1004“ abhält: Da hocken Herren in gebügelten Knickerbocker-Hosen neben „Freaks“ in schlabbrigen T-shirts, Damen im Jägerkostüm neben Frauen in „wasserwerferfestem“ Leder und unterhalten sich nach dem andächtigen Gebet – „Gott möge uns Hoffnung geben, um in dem begonnenen Widerstand nicht zu resignieren“ – über Gewalt.
Kämen ähnliche Leute – Großgrundbesitzer und Sozialhilfeempfänger, Unternehmer und linke Studenten – anderswo zu einem solchen Thema zusammen, so blieben sicherlich die bekannten Koseworte wie „Bonzensau“ und „Krawallmacher“, „reaktionäres Schwein“ und „Anarcho-Chaot“ nicht aus. Hier hingegen machen sie – und es sind weit über hundert – eine Art Kaffeeklatsch daraus, ohne dabei die Spannungen herunterzuwürgen. Leute wie Andreas Graf von Bernsdorff, der auch am Gottesdienst teilnimmt, lernen auf diese Weise die Wut des großstädtischen Öko-Proletariats kennen. Und wer in Familie, Schule, Arbeit und auf der Straße sein Leben lang mit Gewalt konfrontiert wurde, lernt von den Lüchow-Dannenbergern, daß es außer Zurückschlagen noch andere, phantasievollere Widerstandsformen gegen Unrecht und polizeiliche Übermacht gibt.
Obwohl man sich in einem allgemein verbindlichen Papier zum passiven Widerstand durchgerungen hat, hängt die Gefahr der Räumung – wie könnte es anders sein – weiterhin wie ein Damoklesschwert über der „Freien Republik“: Eingewickelt in meinen Schlafsack, liege ich in einem von vielen Zelten; jemand stolpert im Dunkeln über einen Haken meines Zeltes, setzt ihn wieder ein und wünscht mir leise „Gute Nacht“.
Aus dem „Freundschaftshaus" und anderen Holzpalästchen dringen die Lieder und Gitarrenklänge über das ganze Runddorf bis zu mir hin. Ich sehe sie im Halbschlaf vor mir, ums Feuer gedrängt, ein wenig Lagerromantik, gemischt mit dem spritzigen Humor von Leuten, die sich in ihrem Leben, in Büro, Schule, Betrieb und Uni bislang nicht haben unterkriegen lassen. Ich habe mich mitgedreht im Ringelreih-Klamauk und den Staub aufgewirbelt im Tanz, daß er im Sternenhimmel hängenblieb. Zu schelmenhaften Weisen, die, eine Mischung aus Folk und Polka, eine Musikgruppe von der Pädagogischen Hochschule Berlin aus ihren Saiten und Hörnern herauszog. Nun fühle ich mich wie das Gemüsebeet, das der Bauer Peter Wollny aus Vietze heute zugedeckt hat, damit ihm die Kälte nicht weh tut.
Plötzlich reißt mich die Angst hoch: „Die Bullen kommen“, Polizeitruppen umstellen unser Dörfchen und rücken näher – schwer bewaffnet; Kolonnen von Truppeneinsatzwagen und Bulldozern folgen – und die Lieder verstummen; statt dessen der mechanische Klang eines Lautsprechers, der zur Räumung auffordert.