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Bürgerbewegungen zwischen friedlichem Protest und Gewaltausbrüchen (5. August 1977)

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Ein heißer Herbst droht

Im Verhältnis zu den Bundestagsparteien gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Opposition und Koalition, in den Regierungsparteien wird wiederum differenziert – zwischen Basis und Führung. Unionsmitglieder sind mehr bei den „braven“ Organisationen anzutreffen, insgesamt aber scheint ihre Neigung, sich bei Bürgerinitiativen zu engagieren, relativ gering.

Anders dagegen bei den Koalitionsparteien. Bei ihnen gibt es weit mehr entschiedene Kernkraftgegner als in der CDU, und entsprechend stärker ist auch die Beteiligung von SPD- und FDP-Mitgliedern in der Umweltschutzbewegung. Vor allem die Parteijugend scheint, wenn auch etwas spät, das Thema der Kernenergie entdeckt zu haben. Sehr viele junge Umweltschützer aber sind mit den Parteien völlig unzufrieden. Wie Ende der 60er Jahre, so sucht auch heute ein großer Teil der jüngeren Generation, diesmal motiviert durch Gegnerschaft zu Kernenergie und Wachstumszivilisation, beflügelt auch von radikaldemokratischen Idealen, ihr politisches Heil außerhalb der etablierten Parteiorganisationen. Und es ist keineswegs sicher, daß wiederum gelingt, was unter Brandt und Scheel noch möglich war: den Hauptteil der Bewegung in die Parteien zurückzukanalisieren. Den größten Verlust muß vorläufig die SPD registrieren.

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Die Umweltschützer bilden längst nicht mehr eine schlichte Einzweck-Organisation. Die Gegnerschaft zur Kernenergie ist zwar ihr emotionaler Fixpunkt, aber die politischen Überlegungen reichen weit in andere Bereiche hinein – vor allem in der Energie-, Wachstums- und Wirtschaftspolitik. Sie sind zwar noch keine Partei, und die große Mehrheit will es auch gar nicht werden – eine politische Macht sind sie auf jeden Fall: schwer kontrollierbar, eine Verbindung von Studenten-Apo und Anti-Atom-Bewegung, von radikaldemokratischem Zorn und Zivilisationsskepsis, von Bürgertugend und Parteienfeindschaft, unheimlich für Berufspolitiker, schwer steuerbar – ein Potential gewaltiger, auch gewalttätiger Veränderung.

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Quelle: Rolf Zundel, „Anschlag auf die Parteien oder Ventil der Verdrossenheit?“, Die Zeit, 5. August 1977.

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