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Hunger: Ernst Gläser, Jahrgang 1902 (1928)

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Soweit ging die Schamlosigkeit des Kriegs noch nicht, daß die Gendarmen auch dorthin greifen durften.

Der Winter blieb hart bis zum Ende. Der Krieg begann über die Fronten zu springen und ins Volk zu stoßen. Der Hunger zerstörte die Einigkeit, in den Familien bestahlen sich die Kinder um ihre Rationen. Augusts Mutter lief jeden Tag zweimal in die Kirche, sie betete und magerte ab; was ihr an Essen zustand, verteilte sie bis auf ein Minimum unter August und seine Geschwister. Bald sprachen die Frauen, die in grauen Schlangen vor den Geschäften standen, mehr von dem Hunger ihrer Kinder als von dem Tod ihrer Männer. Der Krieg wechselte seine Sensationen.

Eine neue Front entstand. Sie wurde von Frauen gehalten. Gegen die Entente der Feldgendarmen und unabkömmlichen Kontrolleure. Jedes erschlichene Pfund Butter, jeder bei Nacht glücklich geborgene Sack Kartoffeln wurde in den Familien mit der gleichen Begeisterung gefeiert wie vor zwei Jahren die Siege der Armeen.

Bald schickten manche Väter, die in fruchtbaren Gegenden standen und der feindlichen Bevölkerung gegenüber die Macht der Requisition hatten, durch Urlauber nahrhafte Pakete an ihre Familien. Verwalter von Lebensmitteldepots, Ratsschreiber, die Brotkarten ausgaben, Bauern, die starkes Vieh und gute Äcker besaßen, wuchsen zu Instanzen, denen man sich näherte wie früher hochgestellten und reichen Verwandten. Wenn wir in eine Bauernküche traten, in der in breiten Eimern frische Milch stand oder ein Schinken im Rauchfang schaukelte, überkam uns dieselbe Scheu wie August und seine proletarischen Kameraden, als sie vor Jahren einen bürgerlichen Salon sahen oder ein Klavier.

Eigentlich gefiel uns diese Veränderung, denn sie weckte unseren Abenteurertrieb. Es war sehr schön und gefährlich mit verbotenen Eiern aus den Bauernhöfen zu schleichen, sich ins Gras zu werfen, wenn ein Gendarm auftauchte, und die Minuten nach den Herzschlägen zu zählen. Es war wunderbar und erhaben, diesen Gendarmen zu übertölpeln und nach glücklichem Siegeslauf von seiner Mutter als Held gefeiert zu werden.



Quelle: Ernst Gläser, Jahrgang 1902 (1928). Berlin, 1931, S. 290-93.

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