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Neue Armut in der Bundesrepublik (1976)

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In der Bundesrepublik Deutschland gibt es wieder bittere private Armut. 5,8 Millionen Menschen in 2,2 Millionen Haushalten verfügen nur über ein Einkommen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt (vgl. D. I). Es handelt sich dabei nicht um „Gammler, Penner und Tippelbrüder", sondern um

– 1,1 Millionen Rentnerhaushalte mit 2,3 Millionen Personen und
– 600 000 Arbeiterfamilien mit 2,2 Millionen Personen und
– 300 000 Angestelltenhaushalte mit 1,2 Millionen Personen.

Die eigene Sprachlosigkeit der Armen darf nicht dazu führen, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen werden, ohne die in einer Massendemokratie wenig geschieht. Die Armut in unserer Gesellschaft existiert, jedoch oft verschämt und versteckt. Die Zahl der Personen, deren Einkommen unter den Bedarfssätzen der Sozialhilfe liegen, ist etwa 7mal so groß wie die Zahl der Empfänger, die tatsächlich laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten.

Die Gründe dafür, warum die Leistungen der Sozialhilfe von so vielen Menschen nicht in Anspruch genommen werden, obwohl sie ein Recht darauf haben, sind vielschichtig: ein Familienvater z.B., dessen Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liegt, lehnt es schlicht ab, zum Sozialamt zu gehen, weil er ja „selber für sich sorgen kann". Ein weiterer Grund ist die Furcht, die Sozialhilfeträger könnten unterhaltspflichtige Verwandte, insbesondere die Kinder, in Anspruch nehmen. Hinzu kommt, daß gerade unter den Armen ein verhältnismäßig großer Informationsmangel vorliegt.

Armut und soziale Isolierung befinden sich in einem Kreislauf. Wer arm ist, verliert den sozialen Anschluß, und wer den Anschluß verliert, ist arm. Ursache und Wirkung lassen sich nur noch schwer unterscheiden. [ . . . ]



Quelle: Heiner Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente. Freiburg im Breisgau, 1976, S. 26-28.

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