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Herbert Marcuse prangert den Vietnam-Krieg an (22. Mai 1966)

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Sie haben wahrscheinlich eine Gruppe bei dieser Aufstellung der Gegenkräfte in den Vereinigten Staaten vermißt, nämlich die Arbeiterklasse.

Das war kein Versehen. Wir können nicht sagen, daß die Arbeiterklasse in der Opposition gegen den Krieg ist. Sie werden gelesen haben, daß von der Gewerkschaftsführung in Amerika Erklärungen ausgegangen sind, die den Krieg in Vietnam ungewöhnlich stark billigen. [ . . . ] Die Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten gehört nicht zur Opposition, sie ist integriert in das System. Integriert nicht nur ideologisch, sondern integriert auf der materiellen Basis steigender Produktivität und eines steigenden Lebensniveaus. Selbstverständlich ist Amerika eine Klassengesellschaft, und der wirkliche Unterschied zwischen denen, die über das Leben bestimmen und denen, deren Leben bestimmt wird, ist vielleicht größer, als er je gewesen ist: die Entscheidungen sind konzentriert bei einer kleinen Gruppe, die weniger »von unten« kontrolliert ist als je zuvor. Aber diese Klassengesellschaft ist nicht mehr eine des Klassenkampfes im traditionellen Sinne; den Klassenkampf gibt es natürlich noch, es ist ein rein ökonomischer für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit, bessere Arbeitsbedingungen, eine rein ökonomische Gewerkschaftspolitik und keine politische.

Nun zu den Gegenkräften außerhalb der Vereinigten Staaten. In Europa handelt es sich meiner Meinung nach um ein Hauptproblem, nämlich: Kann die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten als Modell gelten, für das was in den kapitalistischen Ländern Westeuropas zu erwarten ist? Ist hier noch ein unabhängiger Weg offen, der Weg des geplanten Kapitalismus und der Arbeiterselbstverwaltung, wie sie besonders in Frankreich als die neue Strategie der Arbeiterbewegung vertreten wird? [ . . . ]

Als letzte und meiner Meinung nach entscheidende Gegenkraft nun die Opposition in den Entwicklungsländern. Hier sind objektiv, wenn auch nicht subjektiv, die klassischen Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus gegeben, nämlich:

1. das Elend der unmittelbaren Produzenten als Klasse, als agrarisches, nichtindustrielles Proletariat,
2. das vitale Bedürfnis nach radikaler Umwälzung unerträglicher Lebensbedingungen,
3. die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die Produktionskräfte zu entwickeln,
4. die militante Organisation der nationalen Befreiungsfront, die eine Einheit von nationaler und sozialer Revolution darstellt.

Und alle diese Kräfte wirken innerhalb des Weltsystems des imperialen Kapitalismus. Der Sieg dieser Kräfte würde in der Tat, wie ich es angedeutet habe, die Ökonomie der Metropolen erschüttern. [ . . . ]

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