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Sozialistische Bruderhilfe und der Sturz Ulbrichts (21. Januar 1971)

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Nicht nur in der Innenpolitik, sondern auch in unserer Politik gegenüber der BRD verfolgt Genosse Walter Ulbricht eine persönliche Linie, an der er starr festhält. Damit wird ständig der zuverlässige Ablauf des zwischen der KPdSU und der SED koordinierten Vorgehens und der getroffenen Vereinbarungen gegenüber der BRD gestört.

Leider sind die Meinungsverschiedenheiten nicht nur in unserer Partei, sondern dank der Umgebung des Genossen Walter Ulbricht auch im Westen bekannt geworden.

Wir sehen die Ursachen für die zunehmenden Schwierigkeiten, die für unsere Partei durch die Handlungsweise des Genossen Walter Ulbricht entstehen, auch im Zusammenhang mit seinem hohen Alter. Hier geht es sicherlich um ein menschliches und biologisches Problem. Wir verstehen – und jeder in unserer Partei wird verstehen – daß es im Alter von 78 Jahren äußerst kompliziert ist, den großen Umfang von Arbeiten und Verpflichtungen wahrzunehmen, die sich aus der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ergeben, insbesondere, wenn man berücksichtigt, daß die gegenwärtige und künftige politische Situation an uns hohe Anforderungen stellt.

Wir können mit voller Verantwortung sagen, daß wir alles getan haben, um Genossen Walter Ulbricht zu helfen. Wir schätzen aber auch seine Verdienste in der Vergangenheit hoch ein. Leider können wir nicht umhin festzustellen, daß sich bei Genossen Walter Ulbricht in der letzten Zeit bestimmte negative Seiten seines auch ohnehin schwierigen Charakters immer mehr verstärken. In dem Maße, in dem er sich vom wirklichen Leben der Partei, der Arbeiterklasse und aller Werktätigen entfremdet, gewinnen irreale Vorstellungen und Subjektivismus immer mehr Herrschaft über ihn. Im Umgang mit den Genossen des Politbüros und mit anderen Genossen ist er oft grob, beleidigend und diskutiert von einer Position der Unfehlbarkeit. Es tritt immer stärker hervor, daß Genosse Walter Ulricht von dem Gefühl seiner Unfehlbarkeit geleitet, für kommende Jahrzehnte, ja, bis zum Jahr 2000 politische und andere Prognosen vorlegt, die sich keine andere Partei der sozialistischen Staatengemeinschaft stellt. Aus vielen Bemerkungen und manchem Auftreten geht hervor, daß sich Genosse Walter Ulbricht gern auf einer Stufe mit Marx, Engels und Lenin sieht. Genosse Walter Ulbricht betrachtet es als eine seiner wesentlichsten Aufgaben, den Marxismus-Leninismus auf den verschiedensten Gebieten »schöpferisch weiter zu entwickeln«.

Seine Haltung gipfelte in einer Behauptung im Politbüro, daß er »unwiederholbar« sei. Die übertriebene Einschätzung seiner Person überträgt er auch auf die DDR, die er immer wieder in eine »Modell-« und »Lehrmeisterrolle« hineinmanövrieren will. So stellte er allen Ernstes der Partei und dem Staat die Aufgabe, in den nächsten Jahren eine jährliche Zuwachsrate der Industrieproduktion und der Arbeitsproduktivität von 10 % unter allen Umständen zu erreichen, weil das angeblich objektiv notwendig sei. Gleichzeitig vertrat er den Standpunkt, daß es daran ankomme, »bisher Nichtgedachtes« einzuschätzen und zu bilanzieren.

Sicherlich waren auch wir in der Vergangenheit der nicht angebrachten übertriebenen Selbstbewertung des Genossen Walter Ulbricht gegenüber nicht immer kritisch und konsequent genug.

In der Haltung und im öffentlichen Auftreten von Genossen Walter Ulbricht liegen ernste Gefahren für die Beziehungen unserer Partei zur Kommunistischen Partei der Sowjetunion und zu den Bruderparteien. Deshalb mußte das Politbüro sich schon mehrfach mit ihm auseinandersetzen, um größten Schaden und ernste Konflikte zu verhindern. Wir berücksichtigen dabei auch bestimmte Lehren aus den Ereignissen in Volkspolen und der ČSSR.

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