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Die Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik in England (1. Januar 1907)

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Stimmt diese Beurteilung britischer Politik, dann wird der Widerstand, den England zwangsläufig gegen jedes Land leistet, das eine solche Diktatur anstrebt, fast zu einer Art Naturrecht, was tatsächlich durch einen herausragenden Experten britischer Nationalpolitik theoretisch demonstriert und historisch untermauert wurde.

Bei der Anwendung dieses allgemeinen Gesetzes auf einen spezifischen Fall wäre der Versuch möglich festzustellen, ob zu einem gegebenen Zeitpunkt ein bestimmter mächtiger und ehrgeiziger Staat in der Lage ist, ein natürlicher und notwendiger Feind Englands zu werden; und die gegenwärtige Position Deutschlands könnte vielleicht diesem Test unterzogen werden. Jede solche Untersuchung muss von der Frage ausgehen, ob Deutschland tatsächlich die politische Hegemonie mit dem Ziel anstrebt, ausschließlich deutsche Expansionspläne zu fördern und eine deutsche Vorherrschaft in der Welt der internationalen Politik auf Kosten und zum Schaden anderer Nationen zu etablieren.

Im Hinblick auf die Außenpolitik kann das moderne Deutsche Reich als Erbe oder Nachfahre Preußens angesehen werden. Das vielleicht außergewöhnlichste Merkmal in der Geschichte Preußens, nach der Aufeinanderfolge talentierter Herrscher und der Energie und Liebe ihrer Untertanen zu ehrlicher Arbeit, ist die innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne erfolgte solide Herausbildung einer europäischen Großmacht aus der bescheidenen Mark Brandenburg. Es war ein Prozess systematischer in erster Linie mit dem Schwert erkämpfter territorialer Vergrößerung, wobei die wichtigsten und maßgeblichen Eroberungen von ehrgeizigen Herrschern oder Staatsmännern mit dem expliziten Ziel errungen wurden, den Zusammenhalt, die Quadratkilometer und die Bevölkerung zu sichern, die erforderlich sind, um aus Preußen einen einflussreichen Staat ersten Ranges zu machen. Alle anderen Länder haben ebenfalls Eroberungen gemacht, viele von ihnen umfangreicher und blutiger. Es geht hier und heute nicht darum, ihre jeweiligen Verdienste und Rechtfertigungen zu erörtern. Das gegenwärtige Interesse soll die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Umstände lenken, die dem Aufstieg Preußens sein besonderes Gepräge gaben. Es handelte sich weder um den Eroberungshunger eines Königs noch um die Einverleibung von Regionen, die geografisch oder ethnisch als integraler Bestandteil des nationalen Einflussgebietes galten, und auch nicht um das mehr oder weniger unbewusste Streben eines vor Vitalität überschäumenden Volkes nach Vermehrung von Lebensraum und Bodenschätzen. In diesem Fall war es vielmehr der Herrscher eines kleinen und schwachen Vasallenstaates, der sagte: „Ich will, dass mein Land unabhängig und mächtig wird. Dies ist innerhalb der gegenwärtigen Grenzen und mit der gegenwärtigen Bevölkerung nicht möglich. Ich brauche ein größeres Territorium und mehr Einwohner, und um das zu erreichen, muss ich eine starke Militärstreitmacht aufbauen“.

Der größte und klassische Exponent in der modernen Geschichte, der gezielt daran ging, einen kleinen Staat in einen großen zu verwandeln, war Friedrich der Große. Durch seine plötzliche Einnahme von Schlesien in Zeiten tiefen Friedens und durch die erste Teilung Polens verdoppelte er praktisch sein angestammtes Herrschaftsgebiet. Indem er die effizienteste und mächtigste Armee seiner Zeit unterhielt und sich England in seinem groß angelegten Bestreben nach Wahrung des Gleichgewichts der Kräfte angesichts des Vordringens Frankreichs anschloss, gelang es ihm, die Stellung seines Landes als eine der europäischen Großmächte zu sichern. Die preußische Politik blieb auch unter seinen Nachfolgern diesen Prinzipien verpflichtet. Hier genügt die Erwähnung der zweiten und dritten Teilung Polens; der wiederholten Versuche der Annexion Hannovers im Einverständnis mit Napoleon; der Zerstückelung Sachsens ebenso wie des Tausches der Rheinprovinzen gegen die Aufgabe polnischer Länder 1815; der Annexion Schleswig-Holsteins 1864; der endgültigen Einverleibung Hannovers und des Hessischen Hinterlandes sowie anderer territorialer Besitznahmen; und schließlich der Rückeroberung von Elsass-Lothringen von Frankreich im Jahre 1871. Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass alle diese Aneignungen gleichwertig sind. Sie haben nur eines gemeinsam: Sie wurden alle mit dem Ziel der Schaffung eines großen Preußens oder Deutschlands geplant.

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