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Sozialistischer „Revisionismus”: Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie (1899)

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Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören, dieses rein spekulative Recht, das keine Verfassung paragraphieren und kein Gesetzbuch der Welt prohibieren kann, und das bestehen wird, solange das Naturgesetz uns, wenn wir auf das Recht zu atmen verzichten, zu sterben zwingt. Dieses ungeschriebene und unvorschreibbare Recht wird dadurch, daß man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das Recht der Notwehr dadurch aufgehoben wird, daß wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigentumsstreitigkeiten schaffen. [ . . . ]

Im übrigen wiederhole ich, je mehr die Sozialdemokratie sich entschließt, das scheinen zu wollen, was sie ist, um so mehr werden auch ihre Aussichten wachsen, politische Reformen durchzusetzen. Die Furcht ist gewiß ein großer Faktor in der Politik, aber man täuscht sich, wenn man glaubt, daß Erregung von Furcht alles vermag. Nicht als die Chartistenbewegung sich am revolutionärsten gebärdete, erlangten die englischen Arbeiter das Stimmrecht, sondern als die revolutionären Schlagworte verhallt waren und sie sich mit dem radikalen Bürgertum für die Erkämpfung von Reformen verbündeten. Und wer mir entgegenhält, daß Ähnliches in Deutschland unmöglich sei, den ersuche ich nachzulesen, wie noch vor fünfzehn und zwanzig Jahren die liberale Presse über Gewerkschaftskämpfe und Arbeitergesetzgebung schrieb, und die Vertreter dieser Parteien im Reichstag sprachen und stimmten, wo darauf bezügliche Fragen zu entscheiden waren. Er wird dann vielleicht zugeben, daß die politische Reaktion durchaus nicht die bezeichnendste Erscheinung im bürgerlichen Deutschland ist.



Quelle: Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart, 1899, Viertes Kapitel, Abschnitt d. S. 144ff.

Auch abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. Auflage. Göttingen und Zürich, 1996, S. 136-43.

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