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Sozialistischer „Revisionismus”: Die nächsten Aufgaben der Sozialdemokratie (1899)

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Man spricht heute viel von Eroberung der politischen Herrschaft durch die Sozialdemokratie, und es ist wenigstens bei der Stärke, welche diese in Deutschland erlangt hat, nicht unmöglich, daß ihr dort durch irgendein politisches Ereignis in näherer Zeit die entscheidende Rolle in die Hand gespielt wird. Gerade dann aber würde sie, da die Nachbarvölker noch nicht so weit sind, gleich den Independenten der englischen und den Jakobinern der französischen Revolution, national sein müssen, wenn sie ihre Herrschaft behaupten soll, d. h. sie würde ihre Befähigung zur leitenden Partei, bzw. Klasse, dadurch zu bekräftigen haben, daß sie sich der Aufgabe gewachsen zeigte, Klasseninteresse und nationales Interesse gleich entschieden wahrzunehmen. [ . . . ]

In dem Vorhergehenden ist im Prinzip schon der Gesichtspunkt angezeigt, von dem aus die Sozialdemokratie unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu den Fragen der auswärtigen Politik Stellung zu nehmen hat. Ist der Arbeiter auch noch kein Vollbürger, so ist er doch nicht mehr in dem Sinne rechtlos, daß ihm die nationalen Interessen gleichgültig sein können. Und ist die Sozialdemokratie auch noch nicht an der Macht, so nimmt sie doch schon eine Machtstellung ein, die ihr gewisse Verpflichtungen auferlegt. Ihr Wort fällt sehr erheblich in die Wagschale. Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Heeres und der völligen Ungewißheit über die moralische Wirkung der kleinkalibrigen Geschütze wird die Reichsregierung es sich zehnmal überlegen, ehe sie einen Krieg wagte, der die Sozialdemokratie zu entschiedenen Gegnern hat. Auch ohne den berühmten Generalstreik kann die Sozialdemokratie so ein sehr gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort für den Frieden sprechen und wird dies gemäß der alten Devise der Internationale so oft und so energisch tun, als dies nur immer nötig und möglich ist. Sie wird auch, gemäß ihrem Programm, in solchen Fällen, wo sich Konflikte mit anderen Nationen ergeben und direkte Verständigung nicht möglich ist, für Erledigung der Differenz auf schiedsrichterlichem Wege eintreten. Aber nichts gebietet ihr, dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen. Wo es sich auf deutscher Seite nicht bloß um Liebhabereien oder Sonderinteressen einzelner Kreise handelt, die für die Volkswohlfahrt gleichgültig oder gar nachteilig sind, wo in der Tat wichtige Interessen der Nation in Frage stehen, kann die Internationalität kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein. [ . . . ]

Von größerer Bedeutung als die Frage der Erhöhung der schon auf dem Programm stehenden Forderungen ist heute die Frage der Ergänzung des Parteiprogramms. Hier hat die Praxis eine ganze Reihe von Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, die bei Schaffung des Programms teils als in noch zu weiter Ferne liegend betrachtet wurden, als daß die Sozialdemokratie sich speziell mit ihnen zu befassen hätte, teils aber auch in ihrer Tragweite nicht hinreichend erkannt wurden. Hierhin gehören die Agrarfrage, die Fragen der Kommunalpolitik, die Genossenschaftsfrage und verschiedene Fragen des gewerblichen Rechts. Das große Wachstum der Sozialdemokratie in den acht Jahren seit Abfassung des Erfurter Programms, seine Rückwirkung auf die innere Politik Deutschlands, sowie die Erfahrungen anderer Länder, haben die intimere Beschäftigung mit all diesen Fragen unabweisbar gemacht, und dabei sind denn manche Ansichten, die damals hinsichtlich ihrer vorherrschten, wesentlich berichtigt worden.

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