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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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Daß nun eine Reihe von Analogien dieser Art wirklich begründet sind, habe ich niemals verkannt. Sie beruhen in den allgemeinen und gemeinsamen Erscheinungen des Lebens als einer Einheit des Mannigfachen, einer Wechselwirkung von Teilen mit einander und dadurch mit dem Ganzen, dessen Teile sie sind, in den Tendenzen, die wir bald als Differenzierung von Organen und Funktionen, bald (auch in der Physiologie) als Teilung der Arbeit erkennen und bezeichnen.

Dagegen vermochte ich nicht einen guten Sinn in der Behauptung zu erkennen, der Staat, die Gemeinde oder irgend eine menschliche Genossenschaft 'sei' ein Organismus, obgleich gerade Gierke immer mit der ganzen Wucht seines Idealismus dafür eintritt; noch in der 1902 gehaltenen schönen Rede über „das Wesen der menschlichen Verbände". Aeußere wie innere Erfahrung bewege zur Annahme wirkender Verbandseinheiten; ein Teil der Impulse, die unser Handeln bestimmen, gehe von den uns durchdringenden Gemeinschaften aus; die Gewißheit der Realität unseres Ich erstrecke sich auch darauf, daß wir Teileinheiten höherer Lebenseinheiten sind, wenn wir auch diese selbst in unserem Bewußtsein nicht finden und nur mittelbar aus den Gemeinschaftswirkungen in uns schließen können, daß die sozialen Ganzen leiblich-geistiger Natur sind. So ergebe sich das Verbandsrecht als eine Lebensordnung für soziale Lebewesen und als ein großer Zweig dieses Rechtes das Sozialrecht mit den Rechtsbegriffen der Verfassung, der Mitgliedschaft, der juristischen Person, des Organs, der freien Willenstat, die eine Verbandsperson ins Leben rufe und die kein Vertrag, sondern ein schöpferischer Gesamtakt sei.

Ich mache dagegen eine strengere Unterscheidung zwischen natürlichen Verbänden, deren Bedeutung für das soziale Leben freilich eminent ist, und kulturlichen oder künstlichen Einheiten geltend, wenn auch diese aus jenen hervorgehen können.

Allerdings sind auch jene in unserem 'Bewußtsein' und für unser Bewußtsein vorhanden, aber nicht wesentlich durch unser Bewußtsein, wie die eigentlich und wahrhaft sozialen Verhältnisse und Verbindungen. Denn diese Erkenntnis behaupte ich als die fundamentale soziologische Erkenntnis, daß es außer den etwanigen realen Einheiten und Zusammenhängen der Menschen solche gibt, die wesentlich durch ihren eigenen Willen gesetzt und bedingt, also wesentlich ideellen Charakters sind. Sie müssen begriffen werden als von den Menschen geschaffen oder gemacht, auch wenn sie tatsächlich eine objektive Macht über die Individuen gewonnen haben, eine Macht, die immer die Macht verbundener Willen über Einzelwillen ist und bedeutet.

Ich fand den großen Sinn des rationalen Naturrechts darin, daß es die bis dahin überwiegend theologisch aufgefaßten Wesenheiten anthropologisch zu verstehen unternahm, die scheinbar übersinnlichen Gestalten als Gebilde menschlichen Denkens und Wollens erklärte.

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