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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Vorrede zur 2. Auflage (1912)

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In die zu 1) bezeichnete Richtung waren nun mehr und mehr alle ethnologisch-soziologischen Forschungen ('von Bachofen bis Morgan', wie die Vorrede dieser Schrift 1887 sich ausdrückte), waren aber ferner die Flüsse und Bäche der Wirtschafts- und der Rechtsgeschichte zusammengelaufen. Darum wandte ich den lichtvollen Vorträgen Sir Henry Maine's meine gespannte Aufmerksamkeit zu; darum fand ich mich unendlich bereichert durch Gierke's 'Genossenschaftsrecht', ein Werk, das zum Verständnisse der Rechtsbildungen und zum Behufe der Nachweisung des unlöslichen Zusammenhanges, der zwischen dem Rechtsleben und dem gesamten Kulturleben bestehe, neben der rechtlichen Seite auch die kulturhistorische, wirtschaftliche, soziale und ethische Seite der 'Genossenschaft' seinen gelehrten und tiefgründigen Betrachtungen unterworfen hat.

Noch näher berührte sich mit meinen speziellen Studien desselben Autors 'Althusius' durch die Ausführungen über naturrechtliche Staatstheorien. Denn ich war von Hobbes ausgegangen, dessen Biographie und Philosophie ich 1877—1882 emsig meine Arbeit gewidmet hatte. Wenn ich mit Paulsen, dem ich die Anregungen dazu verdankte, und mit allen Kennern jenes großen Denkers die Energie und Konsequenz seiner Konstruktion des Staates bewundern mußte, wenn ich die mächtigen Wirkungen seiner Gedanken bis ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen konnte (in England wie in Deutschland, Frankreich und Italien), so mußte umsomehr der Untergang dieser rationalistischen und individualistischen Rechtsphilosophie, die im 18. Jahrhundert als ein Gipfel der Weitweisheit erschien, in Erstaunen setzen. Sind wirklich Lehren für wertlos und unsinnig zu erachten, deren Kern noch als richtig für Männer wie Kant, Fichte, A. Feuerbach feststand; die für die ganze moderne Gesetzgebung, für die Bauernbefreiung, wie für die Gewerbefreiheit, durch ihre Wirkungen auf die politische Oekonomie und auf die ganze innere Staatsverwaltung maßgebend geworden waren; die doch auch den in England und von England aus so einflußreichen Theoremen Benthams zu Grunde liegen? —

In den leeren Raum, der durch Ausmerzung des Naturrechts und seiner Staatslehre gebildet wurde, war die historische Jurisprudenz, die organische Staatslehre und ein tastender Eklektizismus getreten, innerhalb dessen das theologische Element immer wieder als das seiner selbst und des Beifalles der Mächtigen gewisseste hervortritt.

Die theologische Begründung des Rechts und der sozialen Verbände ist historisch von hoher Bedeutung, kommt aber sonst für das wissenschaftliche Denken nur in Betracht, weil es sie überwinden muß. Die bloß historische Ansicht ist begrifflos, also keine philosophische Erkenntnis. Eine diskutable Theorie bietet nur die schon von altersher mit der theologischen verknüpfte Lehre von der 'organischen' Natur des Rechts, des Staates usw. Sie tritt in neuerer Zeit wieder auf, teils — wie schon bedeutet — im Zusammenhange mit der Naturphilosophie, zu der auch die Theologie ihre Verwandtschaft bald wieder geltend macht (Stahl), teils aber im neuen Gewande der biologischen Analogie, die denn auf Gegenseitigkeit beruht: die Biologie will den natürlichen Organismus durch Vergleichung mit Tatsachen des sozialen Lebens, die Soziologie den 'sozialen' Körper umgekehrt erklären und erläutern.

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