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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher (1890)

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Wissenschaft neigt sich zu Ende. Die jetzige vorwiegend gelehrte Bildung der Deutschen bedeutet nur eine Durchgangsstufe innerhalb ihrer geistigen Gesamtentwickelung. Sie sind ein Kunstvolk und sollen sich daher innerlich wie äußerlich als ein solches bewähren; „zu allen Künsten Sachen Handtirungen so ein listig geschwind Volk, daß sie Niemanden nachstehen wöllen" nennt sie bereits der alte Sebastian Frank in seiner Weltchronik. Schon in Goethe, ja wenn man will, schon in dem musikliebenden Luther findet sich das unbestimmte Vorgefühl einer solchen Entwickelung; ersterer hatte bekanntlich bis zu seinem 40. Lebensjahr die ernstliche Absicht, sich der bildenden Kunst zu widmen; und die Haupttat des letzteren, die Bibelübersetzung, ist wesentlich eine künstlerische Tat. Besonders die Persönlichkeit Goethes ist in diesem Fall vorbildlich für das heutige deutsche Volk. Die geistige Signatur des letzteren ist zwar zurzeit noch eine wissenschaftliche; doch sie ist es nicht für immer; es scheint vielmehr, daß ihm jetzt zunächst ein Kunstzeitalter bevorsteht. Kleine und trotzdem deutliche Anzeichen bestätigen dies. Wie man an der Haltung eines Grashalms schon die herrschende Windrichtung erkennt, so zeigt sich die geistige Witterungsänderung, welche im heutigen Deutschland stattfindet, unter anderem auch darin, daß der Typus des „Professors" von der deutschen Alltagsbühne sowie aus dem deutschen Alltagsroman verschwindet, um demjenigen des „Künstlers" Platz zu machen. Auch die Trivialität hat ihre Gesetze; und sie gehen, harmonisch genug, denen der Genialität parallel. In diesem Fall verkünden sie beide nur Gutes; sie versprechen eine Erlösung von dem papiernen Zeitalter; sie verkünden eine Rückkehr zur Farbe und Lebensfreudigkeit, zur Einheit und Feinheit, zur Innigkeit und Innerlichkeit.

Wenn das deutsche Volk sich wieder im rechten Sinne zum Bilde und zum Bilden kehrt, so wird es eine Bildung haben; so kann es genesen. „Darum bilde der Mensch sich in allem schön; jede Handlung sei ihm eine Kunstaufgabe", hat Schinkel gesagt. Gerade die so hoch gestiegene Verwirrung und Verirrung in den durchgängig gangbaren Bildungsbegriffen der Deutschen spricht dafür, daß in ihnen bald eine radikale Anderung eintreten wird. „Ist das Chaos da, ist die Schöpfung nah," singt ein neuerer Dichter. Der neubildende Geist kann in diesem Fall nur derjenige sein, welcher in den deutschen Künstlern, dies Wort im weitesten und besten Sinne genommen, lebt; sie sind die Vertreter einer Herzensbildung, während der Gelehrte als solcher grundsätzlich und sogar häufig ausschließlich einer Verstandesbildung huldigt.

Gegenüber dem Niedergang der heute herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nun nahe, nach den Mitteln zu tragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Überreife nur eine Unreife; denn der Bildung gegenüber ist die Barbarei stets unreif; und in Deutschland ist die systematische, die wissenschaftliche, die gebildete Barbarei von jeher zu Hause gewesen. „Du kennst unser Deutschland; es hat noch nicht aufgehört, ungebildet zu sein," schrieb einst Reuchlin an Manutius und könnte auch heute noch ein ehrlicher Deutscher dem andern schreiben. Überkultur ist tatsächlich noch roher, als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen, wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung; das Volk muß nicht von der Natur weg-, sondern zu ihr zurückerzogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift. Das Volk schafft sich selbst die Medizin, die es braucht; oder es tastet doch nach ihr.

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