GHDI logo

Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform” (1903)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Die Arbeiterschaft ist in ihrer Gesamtheit unzufrieden mit dieser Lage, sie strebt, sie zu verbessern durch Einflußnahme auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und durch die Forderung staatlichen Eingreifens. Weil ihrer Meinung nach ihr die beanspruchte Hilfe in der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung nicht nur nicht gewährt wird, sondern auch der verlangten Gleichberechtigung im wirtschaftlichen Kampfe Hindernisse bereitet werden, so stellt sich ein großer Teil der Lohnarbeiter dieser Ordnung und ihren Trägern feindlich gegenüber. Er sondert sich ab als Klasse von allen anderen sozialen Gruppen im Staat und führt den Klassenkampf in der Behauptung, daß eine Besserung seiner Lage nur durch die Arbeiterschaft selbst und nur durch sie allein herbeigeführt werden könne. Zwischen diesem Teil der Lohnarbeiterschaft und den übrigen Bevölkerungsteilen unseres Vaterlandes ist eine tiefe Kluft entstanden, die ein gegenseitiges Verstehen fast unmöglich macht, und erst im letzten Jahrzehnt sind hin und wieder einige Brücken geschlagen worden, auf denen eine Wiederannäherung möglich wird. Kein Zweifel, der innere Friede in unserem Vaterlande ist auf das ernsteste erschüttert und gefährdet.

Wir, die wir uns in der Gesellschaft für Soziale Reform zusammengefunden haben, stellen uns demgegenüber die doppelte Aufgabe:

Erstens auf eine Besserung der ungenügenden Lage der Lohnarbeiter in überlegter, aber konsequenter und energischer Weise hinzuwirken, das Elend aus den Kreisen der Arbeiterschaft zu verbannen, in fortschreitender Progression die Zahl derer zu vermehren, deren Leben nicht nur durch den Kampf um die Existenz ausgefüllt wird, und so

Zweitens durch Beseitigung der Ursachen der Unzufriedenheit diese selbst zu beseitigen, der Arbeiterschaft die Überzeugung zu geben, daß sie in dem Ringen um eine bessere Existenz nicht allein steht wider alle anderen sozialen Klassen, kurz dem Vaterlande den inneren Frieden wieder zu bringen.

Wir lehnen alle Mittel der Gewalt und des Zwanges gegenüber der Arbeiterbewegung, soweit sie nicht gegen das bestehende Strafgesetz verstößt, ab und wollen sie unter das gemeine Recht gestellt wissen in der Überzeugung, die durch die Erfahrung, die wir in Deutschland selbst mit dem sogenannten Sozialistengesetz gemacht haben, gestützt wird, daß man mit Zwang und Gewalt wohl vorübergehende Erfolge erreichen, wohl äußere Symptome treffen, niemals aber Gesinnungen ändern kann. [ . . . ]



Quelle: Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform?“ Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform 11 (1903).

Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, dritte verbesserte Auflage. Göttingen, 1996, S. 54-57.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite