GHDI logo

Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform” (1903)

Seite 2 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Und nun frage ich: gibt es wohl ein besseres Mittel, denen das Geschäft zu erleichtern, die den Lohnarbeitern wieder und wieder predigen, daß sie bei der bürgerlichen Gesellschaft, den Regierungen, keine Hilfe, keine Gerechtigkeit fänden, daß sie alle miteinander die eine reaktionäre Masse bildeten, die trachte, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern, — als wenn man den Arbeitern den Weg der Selbsthilfe verschränkt, den einzigen Weg, auf dem sie zu einer dem Unternehmertum gleichberechtigten Stellung in dem wirtschaftlichen Kampf um die Arbeitsbedingungen gelangen können? Als wenn man auf die Koalitionen und die Arbeiterberufsvereine eine Gesetzgebung anwendet, die bei den Betroffenen notwendigerweise das Gefühl ungerechter Behandlung wachrufen muß? Ich kenne kein wirksameres Mittel, die Sozialdemokratie zu stärken, als dies Verfahren, es sei denn das der Anwendung von polizeilicher, gewaltsamer Unterdrückung. Wer heute noch nicht begriffen hat, daß für absehbare Zeit mit der Sozialdemokratie als der Vertreterin des größten Teils der industriellen Arbeiterschaft gerechnet werden muß, wer heute noch sich einbildet, die Herrschaft der Sozialdemokratie über die Arbeiterschaft brechen zu können durch Gewalt oder durch kleinliche polizeiliche Mittel, der ist nicht nur mit Blindheit geschlagen, sondern, wenn er Einfluß auf die Leitung der Politik im Staatsleben hat, auch in hohem Grade gefährlich, weil er auf Grund einer falschen Diagnose zu falschen Mitteln greifen wird.

Nicht die Sozialdemokratie zu beseitigen, kann die Aufgabe umsichtiger Politiker sein, weil sie hieran umsonst arbeiten würden, sondern die Hindernisse zu beseitigen, die der Umwandlung der Sozialdemokratie, wie sie jetzt ist, in eine Arbeiterpartei entgegenstehen, die ohne Klassenhaß und ohne Vernichtungskrieg gegen das Bestehende, im Wege der Reform und der Entwicklung den Arbeitern den Platz an der Sonne zu erkämpfen sucht, auf den sie Anspruch haben wie jeder andere Staatsbürger. Und eins der schwerwiegendsten Hindernisse dieser Umwandlung ist die Versagung der Gleichberechtigung in dem wirtschaftlichen Kampfe um die Arbeitsbedingungen, und darum ist eine Sozialreform, welche nicht die „Förderung der Bestrebungen der Arbeiter, in Berufsvereinen und Gewerkschaften ihre Lage zu verbessern“, nicht die Gleichberechtigung der Arbeiter im Sinne der Kabinettsordre vom 4. Februar 1890, nicht die Befreiung der Koalitionsrechte und des Rechts der Arbeiterbauvereine von den Fesseln des politischen Vereinsrechts umfaßt, überhaupt keine Sozialreform.

Ich weiß es wohl, daß gegen die Arbeiterorganisationen mancherlei schwere Vorwürfe erhoben werden. Man beschuldigt sie des Terrorismus gegen nicht sozialdemokratisch gesinnte Arbeiter, des Mißbrauchs der Macht
[ . . . ], hier wie überall halte ich die Anwendung von Gewalt gegen die Schwächeren, den dauernd oder nur zeitweise Schwächeren, zum Zweck der Erreichung von materiellen Vorteilen für eine der widerwärtigsten Erscheinungen im sozialen Leben. Aber, machen sich denn nur die Arbeitervereine in dieser Beziehung schuldig? Weiß man nicht, mit welchen Mitteln z. B. der Petroleumring unbequeme Konkurrenten aus dem Wege geräumt hat, wie er bis zum kleinsten Detaillisten hinab sich die Händler aller Weltteile untertänig gemacht hat? Soll man nicht, gegenüber den Klagen über Streik und Terrorismus, sich erinnern an Aussperrungen und schwarze Listen? — an die nicht seltene Weigerung der Unternehmer, zum Austrag oder zur Verhütung von Streitigkeiten das Gewerbegericht anzurufen? [ . . . ]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite