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5. Der Abbau des Reformstaus
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Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Nach einem durch die Vereinigung belebten kurzen wirtschaftlichen Aufschwung wurde die Bundesrepublik schnell von den ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Problemen der vorhergehenden Jahrzehnte eingeholt. Mit der Vereinigung und dem Beharren auf Kontinuität wurde ein nahtloser Übergang von der alten zur neuen Bundesrepublik und die Erhaltung politischer Stabilität erleichtert, aber auch eine wichtige Chance vertan, Reformvorhaben im Bereich der Wirtschafts- und Sozialsysteme anzugehen. Diese Strategie sollte sich rächen.

Wie kaum ein anderes Thema füllte das Einklagen von wichtigen Reformen jahrelang die Seiten der Zeitungen und die Reden der Meinungsmacher. Im Unterschied zu den Reformen der sechziger und siebziger Jahre, die mit einer Ausweitung des Angebots – von Demokratie, Sozialleistungen und Bildung – breite Unterstützung fanden, implizieren Reformen heute für viele die Bereitschaft zum Wettbewerb und die Furcht vor Verlust an Sozialleistungen. Sie rufen deshalb Widerstände und immer wieder auch Protest hervor. Angesichts hoher Staatsschulden, nachhaltiger struktureller Arbeitslosigkeit, langsamen Wirtschaftswachstums, niedriger Geburtsraten und der Alterung der Bevölkerung sowie globalen Wettbewerbs wurde praktisch kein Politikfeld von dem Ruf nach Reformbedarf ausgenommen. Zur Disposition stehen und standen unter anderem die Finanzierung der Renten und der Gesundheitsversicherung, ein Umbau der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, eine Erneuerung der Bildungspolitik sowie eine Neustrukturierung der Bund-Länder-Beziehungen.

Bereits 1997 wurde das geflügelte Wort vom „Reformstau“ geboren und zum Wort des Jahres gekürt; zu ihm gesellten sich weitere Kurzformeln wie „Lähmung“, „deutsche Krankheit“ oder „gefesselte Republik“. Diese Ausdrücke versuchten ein Befinden einzufangen, das von Widersprüchlichkeiten durchsetzt war. Trotz der Identifikation von Problemen und des artikulierten Reformwillens würden die Problemlösungen nicht den Erwartungen entsprechen. Verschiedene Gründe wurden dafür angeführt. Für die einen lag es vor allem an der so genannten Politikvernetzungsfalle, die das politische System der Bundesrepublik beherrsche, d.h. der Abhängigkeit verschiedener Politikebenen voneinander, um zu Entscheidungen zu gelangen. Dieses System verlange eine Verhandlungsdemokratie, die breiten Konsens sucht und deshalb meist nur im Schneckentempo vorankommt. Das Verhältnis von Bundestag und Bundesrat und die Funktionalisierung des Bundesverfassungsgerichts als politisches Instrument wurden kritisch kommentiert. Andere betonten, dass die politische Klasse zu sehr in eingefahrenen Denkmustern verharre, Reformstrategien dem Bürger nur unzureichend vermitteln und keine Führungsrolle übernehmen würde. Die Reformdebatte wurde ideologisiert und zu parteipolitischem Gerangel genutzt. Die Haltung der Bürger selbst ist nicht frei von Widersprüchen. Zum einen kritisieren sie die offensichtliche Impotenz der Politik; zum anderen verteidigen sie aber ihre Besitzstände vehement (30). Je weniger geschah, desto bedrohlicher wurden die Zukunftsszenarien.



(30) Ausführlich dazu u.a. Helga A. Welsh, „German Policymaking and the Reform Gridlock“, in David P. Conradt et al., Hg., Precarious Victory. The 2002 German Federal Election and its Aftermath (New York und Oxford, 2005), S. 205-219; Hans Vorländer, Hg., Politische Reform in der Demokratie (Baden-Baden, 2005).

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