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August Bebel, „Die Frau und der Sozialismus” (1879)

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Freilich, die Freiheit der Liebeswahl in der bürgerlichen Welt zur Geltung zu bringen ist unmöglich – darin gipfelt ja unsere Beweisführung –, aber man setze die Gesamtheit unter ähnliche soziale Bedingungen, wie sie heute nur den materiell und geistig Auserwählten zuteil werden, und die Gesamtheit hat die Möglichkeit gleicher Freiheiten. In »Jacques« schildert George Sand einen Ehemann, der das ehebrecherische Verhältnis seiner Frau zu einem anderen also beurteilt: »Kein menschliches Wesen kann über die Liebe gebieten, und niemand ist schuldig, wenn er sie fühlt oder entbehrt. Was die Frau erniedrigt, ist die Lüge; was den Ehebruch konstituiert, ist nicht die Stunde, welche sie dem Geliebten gewährt, sondern die Nacht, die sie danach mit ihrem Manne zubringt.« Jacques fühlt sich verpflichtet, infolge dieser Auffassung seinem Nebenbuhler (Borel) den Platz zu räumen und philosophiert dabei: »Borel an meiner Stelle würde ruhig seine Frau geprügelt haben und nicht errötet sein, sie dann in seine Arme aufzunehmen, entwürdigt von seinen Schlägen und seinen Küssen. Es gibt Männer, die ohne weiteres nach orientalischer Manier ihre treulose Gattin totschlagen, weil sie dieselbe als gesetzliches Eigentum betrachten. Andere schlagen sich mit ihrem Nebenbuhler, töten oder entfernen ihn und bitten alsdann die Frau, welche sie zu lieben behaupten, um Küsse und Liebkosungen, während diese sich entweder voll Schrecken zurückzieht oder in Verzweiflung sich hingibt. Dies ist in der ehelichen Liebe gemeiniglich die Art zu handeln, und mir kommt es vor, als ob die Liebe der Schweine weniger niedrig und weniger grob sei als diejenige solcher Menschen.« Brandes bemerkt zu den hier zitierten Sätzen: »Diese Wahrheiten, welche für unsere heutige gebildete Welt als elementare dastehen, waren vor fünfzig Jahren himmelschreiende Sophismen.«* Aber zu den George Sandschen Grundsätzen sich offen zu bekennen, wagt auch heute die »besitzende und gebildete Welt« nicht, obgleich sie tatsächlich danach lebt. Wie sie in der Moral und Religion heuchelt, so heuchelt sie in der Ehe.

Was Goethe und George Sand taten, tun heute tausend andere, die sich mit Goethe oder der Sand nicht vergleichen können, und ohne im mindesten an Ansehen in der Gesellschaft zu verlieren. Man muß nur eine angesehene Stellung innehaben, und alles macht sich von selbst. Dessenungeachtet gelten die Freiheiten eines Goethe und einer George Sand vom Standpunkt der bürgerlichen Moral als unsittliche, denn sie verstoßen gegen die von der Gesellschaft gezogenen Moralgesetze und stehen mit der Natur unseres Sozialzustandes im Widerspruch. Die Zwangsehe ist für die bürgerliche Gesellschaft die Normalehe, die einzige »moralische« Verbindung der Geschlechter, jede andere geschlechtliche Verbindung ist unmoralisch. Die bürgerliche Ehe ist, das haben wir unwiderleglich nachgewiesen, die Folge der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. In engster Verbindung mit dem Privateigentum und dem Erbrecht stehend, wird sie zur Erlangung »legitimer« Kinder als Erben geschlossen. Und unter dem Druck der gesellschaftlichen Zustände wird sie auch denen aufgenötigt, die nichts zu vererben haben, sie wird gesellschaftliches Recht, dessen Verletzung der Staat bestraft, indem er Männer oder Frauen, die in Ehebruch leben und geschieden werden, auf einige Zeit ins Gefängnis setzt.


* George Brandes, Die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. 5. Band. Leipzig 1883, Veit & Co.

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