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Hans Delbrück über Bismarcks Erbe (April 1890)

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festhalten, hier und da eine formale Konzession erhalten und praktisch tun, was wirklich notwendig ist. Spötter glauben im nächsten Reichstag schon ein Wettrennen des Zentrums und des Deutschfreisinns auf militärfrommen Pferden um den Kranz des besseren Patriotismus prophezeien zu dürfen. So gut wird es uns nun freilich nicht werden, aber schon daß solche Möglichkeiten auftauchen, zeigt dem, der wenige Jahre zurückschaut, die Größe der Abwandlung.

Noch größer ist die Wandlung unseres Parteilebens in den sozialpolitischen Anschauungen. Die alte reine Manchester-Schule ist ebenso überwunden wie die Einführung einer Miliz an Stelle des stehenden Heeres. Die konservative Partei hat zugunsten des Reform-Gedankens die alten patriarchalisch-feudalen Ideale, die nationalliberale die individuelle Selbsthilfe aufgeben müssen, und endlich hat auch die deutschfreisinnige Partei sich bekehrt und sich auf den Boden der „Erlasse“ gestellt. Nicht wenig mag dazu beigetragen haben, ihr diesen Übergang zu erleichtern, daß sie ihn anfänglich in den Mantel der Opposition hüllen konnte. In dem Augenblick, wo sich herausstellte, daß an einer Stelle des neuen Systems, dem Arbeiterschutz, der Reichskanzler zurückhalte, fing die deutschfreisinnige Partei an, sich gerade mit diesem Bestreben zu befreunden, und so hat sie sich allmählich dazu bekehrt, „auch etwas gelernt zu haben“, und den Grundsatz der natürlichen Harmonie der Interessen begraben. Noch das Invaliditätsgesetz war im vorigen Sommer allein mit der Herkuleskraft des Fürsten Bismarck aufzubauen. Hier vereinigte sich mit der doktrinären Opposition und dem wirtschaftlichen Egoismus die ganze Kraft des Partikularismus. Kein anderer Minister als der Fürst Bismarck wäre imstande gewesen, diese Phalanx niederzukämpfen. Mit diesem Sieg aber ist auch dieser Feldzug abgeschlossen und endgültig gewonnen.

Nicht anders ist es der eigenste Bismarcksche Gedanke der Sozialpolitik des Königtums, der in seiner Fortentwicklung die Intentionen des Urhebers hinter sich gelassen und seinen Sturz vorbereitet hat. Niemand vermag diesen Gedanken mehr aufzuhalten. Ihm gehört die Zukunft. Er lebt fortan nicht mehr durch den Erzeuger, sondern durch seine eigene Kraft.

Die deutsche Reichsverfassung, das Gleichgewicht von Einheit und Selbständigkeit im Bunde, von Monarchie und Volksvertretung in der Konstitution, ist durch richtige Anlage im Grundriß und feststehende Praxis in der Ausführung auf Generationen hinaus gesichert. Gesinnungsgenossen und Mitarbeiter dieser Zeitschrift haben wiederholt die Forderung erhoben, daß der Abschluß des Bismarckschen Werkes die Schaffung einer Partei sein müsse, der er einmal das Erbe seiner politischen Gedanken übergeben und die Zukunft Deutschlands anvertrauen könne. Im Kartell schien endlich dieser Wunsch seiner Erfüllung nahegebracht zu werden. Die Wahl-Niederlage des Kartells hat ihn wieder zu Wasser werden lassen. Wir haben von je, nicht etwa erst nach dieser Niederlage, sondern schon vorher einen andern Standpunkt eingenommen. Niemals kann die Zukunft eines Landes allein auf einer Partei oder Partei-Kombination beruhen. Partei postuliert den Begriff der Gegenpartei und damit den des Wechsels im Regiment. Es klingt paradox und ist doch die reine Wahrheit: das

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