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Itzig Behrend, Chronik einer jüdischen Familie in Hessen-Kassel, ca. 1800-1815 (Rückblick)

Itzig Behrend (1766-1845) verbrachte sein gesamtes Leben in Grove (Landgrafschaft Hessen-Kassel), einer kleinen, ländlichen Gemeinde mit einer Handvoll jüdischer Familien. Die nachfolgende Familienchronik liefert eine Fülle von Informationen hinsichtlich Eheschließungen, Geburten, Todesfällen, sowie weiteren nennenswerten Ereignissen für die Familie Behrend, und darüber hinaus bietet sie einen seltenen Einblick auf jüdisches Sozial- und Gemeindeleben in Grove und Umgebung während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Zudem stellt die Chronik eine reichhaltige Quelle dar für Augenzeugenberichte, was politische Großereignisse der Zeit und ihre Auswirkungen auf die ortsansässige jüdische Bevölkerung anbelangt. Zum Beispiel beschreibt Itzig den französischen Angriff auf das Königreich Hannover im Juli 1803 sowie die Gründung des Königreichs Westphalen im Jahre 1807. Er bezieht sich außerdem ausdrücklich auf das „Dekret, welches die den Juden aufgelegten Abgaben aufhebt” (27. Januar 1808) von Jérôme [Hieronymus] Napoleon.

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Unsere Familien Chronik

Itzig Behrend


Dieses ist die Geschichte Jitzschaks (Itzigs) Sohnes Jakaufs, genannt Jakob.

Jabok war ein Sohn Bärs, Bär ein Sohn Jakobs. Ich, Jtzig, bin der dritte Sohn meines Vaters Jakob in Rodenberg, geboren wurde ich in Grove Nr 65. Ich habe meinen Urgroßvater Jakob noch gekannt, derselbe ist 100 Jahre alt geworden. Sein Sohn hieß Bär. Dieser heiratete eine Frau namens Chaja aus Hildesheim und zeugte 4 Töchter und 2 Söhne, von welchen mein Vater der Aelteste war. [ . . . ]

Unsere Hochzeit war am Sonntag und Montag Neumondstage von Ijar = 1793. Am Mittwoch Sidra (11. Februar 1796) sind wir durch Gottes Hilfe in das Haus Nr. 88 in Grove eingetragen. Und Jizchak nahm die Nivka und führte sie in das Zelt Sarahs, seiner Mutter. [ . . . ]

Den 13. Mai 1800 sind die jüdischen männlichen Personen von 15 bis 40 Jahren zur Musterung und Ausnahme zu Soldaten nach Gudensberg von dem Landgraf Wilhelm II [sic]* bestellt worden, welches auch geschah, aber die Parnossin (Vorsteher) der Gemeinden haben das mit schwer Geld abgemacht, wovon unser Teil 100 Th. gekostet hat, welches wir hier in der Rentnerei bezahlt haben. Ta der Landgraf verreist war, und er Schwuaus zurückkam und in einigen Tagen wieder verreisen wollte, so hatte der Raf (Rabiner) den Parnossin gewiesen (als gesetzlich erlaubt) am Jontef zu ihm zu fahren nach dem Weißenstein, und da haben sie auch die Gesere (verhängnisvolle Gefahr) mit viel Geld abgewandt. [ . . . ]

Am 9ten Mai 1803 hatten wir sämtliche Schutzjuden hier und in Nenndorf mit den hiesigen Kaufleuten und mit Witheln, Aplern Sachen Termin, nämlich die Kaufleute hatten eine Schrift ans Amt übergeben (dahin lautend:) wir sollten nicht handeln, nicht hausiren, nicht viele Diener halten (Commis) dagegen haben wir eine Schrift durch Fürstenau in Rinteln übergeben, wovon sich die Kosten auf 13 Th. 21 Groschen beliefen. Dazu hat Feibisch O. N., Meyer und sein Bruder Gumpel, ich Itzig und sein Bruder Aron beigetragen. Uebrigens ist die Sache ruhig geblieben. Gotte gebe ferner Frieden uns und ganz Israel. [ . . . ]

Am 15. Mai 1803 haben wir sämtliche Juden hier einen Ball auf dem Rathskeller gegeben mit Musik, da an diesem Tage unser Landgraf zum Kurfürsten gemacht war. Auch wurden des Morgens in der Schul (Synagoge) 7 Psalme gesungen, welche seiner Ehrwürden Rabbi Löb Berliner in Cassel aufgegeben. Un die Casseler Judenschaft haben sich denselben Tag [ . . . ], wovon wir auch gedrucktes Buch erhalten haben. Der Ball hat uns, nämlich meinem Herrn Vater Itzig, Aron und Abraham 15 Thlr. gekostet. Seit dato ist der Leibzoll im ganzen Hessenlande abgeschafft worden. [ . . . ]

Im Monat Juni 1803 sind die Franzosen in das Hannoversche Land gekommen mit einem Kommandeur namens Mertier um es einzunehmen, da England den Friedensschluß nicht gehalten. Die Hannoverschen Truppen wollten sich verteidigen, aber sie haben sich bedacht und b’scholaum zurückgezogen. Die Franzosen sind unbehelligt hereingekommen. Theile von dem Streif- und Freicorps haben geplündert und gebrandschatzt, welche man aber dabei ertappt hat, sind stark bestraft und erschossen worden. Wir hatten derzeit viele Güter unserer Freunde im Hause, welche befürchteten, sie könnten alle darum kommen. So von Nienburg, Stolzenau, Ohes, Baschehusen (Barsinghausen).



* Eigentlich: Landgraf Wilhelm IX.

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