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Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich von Moses Mendelssohn
Verehrungswerther Menschenfreund!
Sie haben für gut befunden, des Herrn Bonnets Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die Sie aus dem Französischen übersetzt, mir zuzueignen, und in der Zuschrift mich vor den Augen des Publikums auf die allerfeyerlichste Weise zu beschwören: „diese Schrift zu widerlegen, wofern ich die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finde; Dafern ich aber dieselbe richtig finde, zu thun, was Klugheit, Warheitsliebe und Redlichkeit mich thun heissen, — was ein Sokrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte;“ d. i. die Religion meiner Väter zu verlassen, und mich zu derjenigen zu bekennen, die Hr. B. vertheidiget. Denn sicherlich, wenn ich auch sonst kriechend genug dächte, die Klugheit der Warheitsliebe und Redlichkeit das Gegengewicht halten zu lassen, so würde ich doch hier in diesem Falle alle drey in derselben Schale antreffen.
Ich bin völlig überzeugt, daß Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fließen, und kann Ihnen keine andere, als liebreiche, menschenfreundliche Absichten, zuschreiben. Ich würde keines rechtschaffenen Mannes Achtung würdig seyn, wenn ich die freundschaftliche Zuneigung, die Sie mir in ihrer Zuschrift zu erkennen geben, nicht mit dankbarem Herzen erwiederte. Aber läugnen kann ich es nicht, dieser Schritt von Ihrer Seite hat mich ausserordentlich befremdet. Ich hätte alles eher erwartet, als von einem Lavater eine öffentliche Aufforderung.
Da Sie Sich der vertraulichen Unterredung noch erinnern, die ich das Vergnügen gehabt, mit Ihnen und Ihren würdigen Freunden auf meiner Stube zu halten; so können sie unmöglich vergessen haben, wie oft ich das Gespräch von Religionssachen ab, und auf gleichgültigere Materien zu lenken gesucht habe; wie sehr Sie und Ihre Freunde in mich dringen mußten, bevor ich es wagte, in einer Angelegenheit, die dem Herzen so wichtig ist, meine Gesinnung zu äussern. Wenn ich nicht irre; so sind Versicherungen vorhergegangen, daß von den Worten, die bey der Gelegenheit vorfallen würden, niemals öffentlich Gebrauch gemacht werden sollte. – Jedoch, ich will mich lieber irren, als Ihnen eine Uebertretung dieses Versprechens Schuld geben. – Wenn ich aber auf meiner Stube, unter einer geringen Anzahl würdiger Männer, von deren guten Gesinnungen ich Ursach hatte versichert zu seyn, einer Erklärung so sorgfältig auszuweichen suchte; so war leicht zu erachten, daß eine öffentliche meiner Gemüthsart äusserst zuwider seyn würde, und daß ich in Verlegenheit gerathen mußte, wenn die Stimme, die mich dazu auffordert, mir nicht verächtlich seyn kann. Was hat Sie also bewegen können, mich wider meine Neigung, die Ihnen bekannt war, aus dem Haufen hervorzuziehen, und auf einen öffentlichen Kampfplatz zu führen, den ich so sehr gewünscht, nie betreten zu dürfen? – Und wenn Sie auch meine Zurückhaltung einer bloßen Furchtsamkeit oder Schüchternheit zugeschrieben haben, verdienet eine solche Schwachheit nicht die Nachsicht und die Verschonung eines jeden liebreichen Herzens?
Allein die Bedenklichkeit, mich in Religionsstreitigkeiten einzulassen, ist von meiner Seite nie Furcht oder Blödigkeit gewesen. Ich darf sagen, daß ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. Die Pflicht, meine Meinungen und Handlungen zu prüfen, habe ich gar frühzeitig erkannt, und wenn ich, von früher Jugend an, meine Ruh- und Erholungsstunden der Weltweisheit und den schönen Wissenschaften gewiedmet habe; so ist es einzig und allein in der Absicht geschehen, mich zu dieser so nöthigen Prüfung vorzubereiten. Andere Bewegungsgründe konnte ich hierzu nicht gehabt haben. In der Lage, in welcher ich mich befand, durfte ich von den Wissenschaften nicht den mindesten zeitlichen Vortheil erwarten. Ich wußte gar wohl, daß für mich ein glückliches Fortkommen in der Welt auf diesem Wege nicht zu finden sey. Und Vergnügung? – O mein werthgeschätzter Menschenfreund! Der Stand, welcher meinen Glaubensbrüdern im bürgerlichen Leben angewiesen worden, ist so weit von aller freyen Uebung der Geisteskräfte entfernt, daß man seine Zufriedenheit gewis nicht vermehret, wenn man die Rechte der Menschheit von ihrer wahren Seite kennen lernt. – Ich vermeide auch über diesen Punkt eine nähere Erklärung. Wer die Verfassung kennet, in welcher wir uns befinden, und ein menschliches Herz hat, wird hier mehr empfinden, als ich sagen kann.