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Überlegungen eines westdeutschen Journalisten zu den Folgen des Ölschocks (15. November 1973)

Der bekannte linke Journalist Sebastian Haffner legt in einer Kolumne seine Überlegungen zu den Folgen einer zehnfachen Erhöhung des Ölpreises dar, die das Kartell ölexportierender Länder im Herbst 1973 beschlossen hat, und macht den Vorschlag, Öl zu sparen und auf Kohle zurückzugreifen, um Europa im Energiebereich wieder unabhängiger zu machen.

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Geht es nicht auch ohne Öl?


Sehr würdig kann man die Nahost-Erklärung der EG-Staaten beim besten Willen nicht nennen. Erstens reden die Europäer, wo sie nicht gefragt sind und wo sie nichts zu sagen haben. Zweitens ist allzu deutlich, warum sie den Arabern so plötzlich zum Munde reden: aus Angst – aus blasser Angst ums liebe Öl.

Vor 60 oder 70 Jahren hätten die europäischen Staaten auf die Liefersperren, Preisdiktate und Boykottdrohungen der arabischen Ölländer mit der Entsendung von Kriegsschiffen und Marinesoldaten geantwortet. Das wollen wir nicht zurückwünschen. Wir sind keine Imperialisten mehr. Aber Demutsgesten sind auch nicht das richtige. Wer auf Erpressung eingeht, handelt sich immer neue Erpressung ein: Die alte Lebensregel gilt auch in der Politik.

In diesem Fall gilt sie besonders, weil die Araber offensichtlich auf den Geschmack gekommen sind. Sie haben gemerkt, daß sie uns in der Hand haben und immer weniger Öl für immer mehr Geld verkaufen können. Sie wären Narren, wenn sie dieses glänzende Geschäft nicht bis zum Weißbluten weiter betreiben würden, und wir wären Narren, wenn wir glaubten, durch politisches Wohlverhalten unsere künftige Ölversorgung sichern zu können. Wir können sie nicht mehr sichern, weder durch Geld noch durch gute Worte. Und darum hilft es nichts: Wir müssen los vom Öl, auch wenn uns die Entziehungskur hart ankommt.

Es stimmt ja: Öl ist zur Zeit die wirtschaftlichste Energiequelle, vielseitig, ergiebig, sauber, bequem, in jeder Hinsicht der Kohle vorzuziehen. Nur: Die Kohle haben wir, und das Öl haben wir nicht. Wir hätten besser getan, bei der Kohle zu bleiben, auch wenn wir dabei etwas langsamer reich geworden wären. Es war kurzsichtig, so viele Zechen stillzulegen und so viele Bergleute umzuschulen, kurzsichtig, über dem bloßen Wirtschaftskalkül den Sicherheitsfaktor so vollkommen zu vergessen. Jetzt vom Weißbrot Öl zum Schwarzbrot Kohle zurückzutreten ist hart. Es wird uns trotzdem nichts anderes übrigbleiben, wenn wir uns nicht damit abfinden wollen, daß unsere ganze Wirtschaft durch Ölentzug nach Lust und Laune abgewürgt wird.

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