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Sozialistische Bruderhilfe und der Sturz Ulbrichts (21. Januar 1971)

Unter Federführung von Erich Honecker appellieren Mitglieder des Politbüros, des obersten Führungsorgans der SED, an den Generalsekretär der KPdSU und erbitten Unterstützung bei der Absetzung von Walter Ulbricht, die durch dessen wirtschafts- und außenpolitische Fehleinschätzungen notwendig geworden sei.

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Mitglieder des SED-Politbüros an das KPdSU-Politbüro und Generalsekretär L.I. Breshnew


Teure Genossen!

Wie Ihnen bekannt ist, kam es bei uns in den letzten Monaten in wachsendem Maße zu einer außerordentlich schwierigen Lage im Politbüro. Das hat seine Ursache darin, daß seit Mitte 1970 von Genossen Walter Ulbricht immer wieder Einschätzungen gegeben und Fragen aufgeworfen werden, die nicht mit der realen Lage der Deutschen Demokratischen Republik und unseren Aufgaben in Übereinstimmung stehen.

Das erfüllt uns mit großer Sorge, weil dadurch die politische und organisatorische Führungstätigkeit der Partei in einer Situation geschwächt wird, in der sowohl angespannte innere Probleme als auch komplizierte außenpolitische Aufgaben unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft verlangen. Genosse Walter Ulbricht hält sich gar nicht an Beschlüsse und getroffene Vereinbarungen. Er geht nicht von den ZK- und Politbüro-Beschlüssen aus, sondern stellt gefaßte Beschlüsse immer wieder in Frage und zwingt dem Politbüro ständig Diskussionen auf, die es in nicht mehr zu vertretender Weise von der konkreten Arbeit bei der Lösung der wichtigsten Aufgaben abhalten.

Wir haben uns bemüht und bemühen uns, die im August 1970 in Moskau getroffenen Vereinbarungen konsequent durchzuführen und faßten dementsprechend für die Stabilisierung der Lage in der Deutschen Demokratischen Republik bereits am 8. September 1970 einen grundlegenden Beschluß. Genosse Walter Ulbricht trat mehrfach außerhalb des Politbüros vor einem breiten Auditorium gegen diesen Beschluß auf.

Nachdem die 14. Tagung des Zentralkomitees (9. bis 11. Dezember 1970) eine realistische Einschätzung der inneren, insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklung und eine entsprechende Zielstellung erarbeitet und gebilligt hatte, hielt Genosse Walter Ulbricht ein Schlußwort, das in seiner Grundtendenz nicht mit dem, was auf dieser Tagung gesagt wurde, und unserer gemeinsamen Linie übereinstimmte. Das Politbüro war gezwungen, die Veröffentlichung dieses Schlußwortes abzulehnen. Dasselbe war bereits mit einer Rede eingetreten, die Genosse Ulbricht auf einer erweiterten Sitzung der Bezirksleitung Leipzig im November 1970 gehalten hatte. Das Politbüro mußte auch im Januar 1971 ein von Genossen Walter Ulbricht überraschend eingebrachtes Material ablehnen, das zur Vorbereitung des VIII. Parteitages der SED an alle Bezirks- und Kreisleitungen sowie an die Grundorganisationen der Partei versandt werden sollte. Auch darin wurden zwar die Beschlüsse der 14. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und vorangegangener Politbüro-Sitzungen verbal anerkannt, in der Tat aber versucht, eine andere Einschätzung der Lage zu geben und erneut die Partei auf irreale Ziele zu orientieren. In diesem Material ist vorgesehen, zum VIII. Parteitag eine Orientierung zu geben und Beschlüsse zu fassen, die nicht auf die Fragen des Lebens Antwort geben und um das gültige Programm entsprechend der Entwicklung zu konkretisieren, sondern durch lebensfremde, pseudowissenschaftliche teilweise »technokratische« Theorien einer sogenannten Vorausschau bis 1990 und darüberhinaus ersetzt werden sollen. In der Einschätzung internationaler Fragen wird von ihm teilweise in den Formulierungen hinter die Beschlüsse der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien und der verschiedenen Beratungen der Staaten des Warschauer Vertrages zurückgegangen. Das würde dazu führen, daß wir zum VIII. Parteitag nicht mit einer einheitlichen Meinung kommen, sondern mit der Meinung der Mehrheit des Politbüros und des Zentralkomitees auf der einen und der des Genossen Walter Ulbricht auf der anderen Seite. Sein ganzes Verhalten behindert in der letzten Zeit unsere Vorarbeiten zum Parteitag.

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