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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher (1890)

Julius Langbehn (1851-1907) erhielt 1880 die Doktorwürde in Kunstgeschichte und Archäologie, aber es gelang ihm nie, sich eine Stelle an der Universität zu sichern – ein Umstand, der ohne Zweifel auf seine schwierige Persönlichkeit, leichtfertigen Intellekt und schlechte akademische Vorbereitung zurückzuführen war. In den 1880ern führte er überwiegend ein Wanderleben, das von Gelegenheitsarbeiten und häufigen Umzügen bestimmt war. Im Jahre 1889 versuchte er das alleinige Sorgerecht für den Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu übernehmen, der damals bereits an seiner geistigen Erkrankung litt. Sein Plan, Nietzsche zu „kurieren“ war eine weiterer Misserfolg. Doch im Jahre 1890 kam für Langbehn schließlich die glückliche Wende mit der Veröffentlichung seiner Abhandlung Rembrandt als Erzieher, worin er das moderne Leben in seinen unzähligen Manifestierungen (z.B. Rationalismus, Liberalismus, Materialismus und Verbreitung der „Massenkultur”) angreift. Sein Buch preist den niederländischen Künstler Rembrandt als Quintessenz der „süddeutschen Rasse“. Für Langbehn galt Rembrandt als geistige Vaterfigur und Erzieher, dessen glänzendes Vorbild zu einer nationalen Wiedergeburt führen könne, wobei die Kunst sich über Politik, Religion und Wissenschaft erheben würde. Das Buch war ein sofortiger Erfolg, besonders in Kreisen des Mittelstandes. Es erschien in 39 Auflagen und ließ mit der Zeit zunehmend antisemitische Untertöne anklingen. (Der unten angegebene Auszug stammt aus der 37. Auflage, veröffentlicht 1891.) Langbehns unverhohlener Nationalismus entsprach dabei einer breiteren zeitgenössischen Strömung in Deutschland – das Land kränkelte am allgemeinen Unbehagen über die Frage, wie sich inmitten der zahlreichen Interessengruppen und Gesellschaftsschichten die Verfassung einer politischen Gemeinschaft gestalten solle.

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Leitgedanken.

Zeichen des Niedergangs.
Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden, daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Spezialismus; auf dem Gebiet des Denkens wie der schönen Literatur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos. Die Architektur ist die Achse der bildenden Kunst, wie die Philosophie die Achse alles wissenschaftlichen Denkens ist; augenblicklich gibt es aber weder eine deutsche Architektur noch eine deutsche Philosophie. Die großen Koryphäen auf den verschiedenen Gebieten sterben aus; les rois s'en vont. Das heutige Kunstgewerbe hat, auf seiner stilistischen Hetzjagd, alle Zeiten und Völker durchprobiert und ist trotzdem oder gerade deshalb nicht zu einem eigenen Stil gelangt. Ohne Frage spricht sich in allem diesem der demokratisierende nivellierende atomisierende Geist des Jahrhunderts aus. Zudem ist die Bildung der Gegenwart vorwiegend eine historische alexandrinische rückwärts gewandte; sie richtet ihr Absehen weniger darauf, Werte zu schaffen, als Werte zu registrieren. Und damit ist überhaupt die schwache Seite unserer modernen Zeitbildung getroffen; sie ist wissenschaftlich und will wissenschaftlich sein; aber je wissenschaftlicher sie wird, desto unschöpferischer wird sie. „Die Teile haben sie in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band." Goethe, der von den jetzigen Deutschen mehr theoretisch als praktisch verehrt wird, konnte Leute mit Brillen nicht leiden; Deutschland ist aber jetzt voll von wirklichen und geistigen Brillenträgern; wann wird es hierin zu Goethes Standpunkt zurückkehren? Den Bewohnern eines Reiches, wie das deutsche, steht es sicherlich nicht an, sich achselzuckend als Epigonen zu bekennen und auf einen Fortschritt in den eigentlich entscheidenden Fragen des geistigen Lebens zu verzichten. Kein Irrtum ist verhängnisvoller als der, wenn man glaubt, in den Hauptstücken der Bildung fertig zu sein; wenn man meint, sie nur im einzelnen noch nachflicken zu können: solange ein Volk lebendig ist, kann es sich der Notwendigkeit großer geistiger Achsenverschiebungen, in seinem Innern, nicht entziehen. Man macht heutzutage Entdeckungen in Ostafrika, aber es gibt in Deutschland selbst weit wichtigere Entdeckungen zu machen; es genügt nicht, daß die Deutschen sich als Staatsbürger entdeckt haben; sie sollten sich auch als Menschen entdecken!

Wendung zur Kunst.
In der Tat macht sich bereits ein Zug nach dieser Richtung hin bemerkbar; die Besseren unter den Gebildeten Deutschlands blicken nach neuen Zielen auf geistigem Gebiet aus. Bismarck hat allerdings geäußert „die Volksmeinung ist schwer zu erkennen"; und wirklich ist diese oft etwas ganz anderes, als die sogenannte öffentliche Meinung; aber selbst eine verborgene Strömung verrät sich durch ein dunkles Rauschen. So auch hier. Das Interesse an der Wissenschaft und insbesondere an der früher so populären Naturwissenschaft vermindert sich neuerdings in weiten Kreisen der deutschen Welt; es vollzieht sich ein merklicher Umschwung in der betreffenden allgemeinen Stimmung; die Zeiten, in welchen ein angesehenes Mitglied der Naturforscherversammlung zu Kassel diese allen Ernstes für das „Gehirn Deutschlands" erklären konnte, sind vorüber. Man glaubt nicht mehr so recht an diese Art von Evangelium. Man ist einigermaßen übersättigt von Induktion; man durstet nach Synthese. Wir stehen jetzt an der Wendung einer neuen Epoche. Die Herrschaft zwar nicht der Wissenschaft überhaupt, aber doch der gegenwärtigen und sich zeitweilig allmächtig dünkenden

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