GHDI logo


Paul Schultze-Naumburg und Häusliche Kunstpflege (1900)

Deutsche Pädagogen der wilhelminischen Ära widmeten sich ausgiebig der Aufgabe, ihre Zeitgenossen zu einer anspruchsvolleren Lebensgestaltung anzuleiten. Als federführend auf diesem Gebiet erwies sich der Lehrer, Architekt, Graphikkünstler und Kritiker Paul Schultze-Naumburg (1869-1949), der mit seinem Buch Häusliche Kunstpflege von 1900 die deutsche Gesellschaft nach seinem Verständnis positiv zu beeinflussen suchte, indem er ihr Malerei und Innenarchitektur näher brachte.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 3


Ziele. Wir stehen vor einer anscheinend höchst merkwürdigen Erscheinung. Die Malerei ist nach jahrelangem Kampfe in ein ruhiges Fahrwasser gekommen, schöne moderne Gemälde werden in grosser Zahl geschaffen, das Interesse und die Sympathie Vieler hat sich ihnen zugewandt, ja, es giebt verhältnismässig viel Käufer — und doch kann von einer allgemeinen Teilnahme des Volkes an den künstlerischen Aufgaben nicht die Rede sein; man hört von allen Malern stets nur über die allgemeine Lage klagen, die Stellung ihrer Kunst wird mit jedem Tag prekärer, es ist, als ob ein unsichtbarer Stein im Wege läge, der die gesunde Weiterentwicklung aufhielte.

Ein unsichtbarer? Nein, wer Augen hat zu sehen, der sieht ihn.

Die Entwicklung der Malerei war eine so rapid schnelle und liess derart alle verwandten Künste, auf die sie sich doch stützen muss und in deren Wechselbeziehung sie sich eigentlich erst entfaltet, verkümmert hinter sich zurück, dass sie jetzt auf ihrer Höhe den Halt verlor. Es war, als ob ein Ast eines Baumes sich allein zu ragender Höhe entwickelt und nun vereinzelt vom Sturme hin- und hergerüttelt wird. Sind alle Äste gleich hoch gewachsen, so halten sie dem stärksten Ansturm Trotz.

Wir haben eine moderne Malerei, aber kein von ästhetischen Gesichtspunkten aus gebildetes modernes Wohnhaus. Wo sollen nun die unzähligen Kunstwerke des Pinsels eine Stätte finden? In den Gallerien? Das ist nicht der Zweck ihres Entstehens, sondern sie verlangen als harmonischen Rahmen ein gleich künstlerisch empfundenes Heim; das aber giebt es heute noch nicht.

Die Stilhetze des Altdeutschen, der Renaissance und des Rokoko hat es nicht geschaffen. Gerade so wenig, wie in uns der Geist des Mittelalters wach ist, gerade so wenig passen wir in die Umgebung, die dieser Geist sich gebildet hat. Bei all jenem galt es nicht die Gestaltung realistischer Ideale, auf die das Otto Ludwigsche Wort heut noch genau so passt, wie vor vierzig Jahren: es gilt realistische Ideale darzustellen, d. h. die Ideale unserer Zeit. Ganz verkehrt ist es, die Ideale einer vergangenen Zeit nachzudichten, die schon ihre möglichst schöne Realisierung in den Gestalten der grossen Dichter und Maler der vergangenen Zeit gefunden haben. Vielmehr ist es die Aufgabe, den Idealen, die noch gestaltlos, als blosse Sehnsucht in den Herzen und Köpfen der neustrebenden Gegenwart zittern, die Gestalt zu geben, in der sogleich jeder Zeitgenosse das erkennt, was er hegte, aber nicht gestalten, nicht anschauen konnte.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite