GHDI logo


Wohnung und Häuslichkeit (1899)

Das Anwachsen der Stadtbevölkerung führte zu akuter Wohnungsnot und hatte eine Neuordnung des städtischen Raums zur Folge. Die Aufteilung in Anlehnung an die gesellschaftliche Stellung der Einwohner bestand zwar fort, die Konzentration kommerzieller Aktivitäten im Stadtzentrum verdrängte die wohlhabenden Mittelschichten jedoch an die Stadtränder und zog die Arbeiter in die dicht besiedelten innerstädtischen Bezirke. Der Verfasser dieses im Magazin „Neue Deutsche Rundschau“ erschienenen Beitrags kritisiert die elenden Lebensbedingungen der meisten städtischen Lohnarbeiter.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 4


Die Concentration der wachsenden Bevölkerung durch das unsichtbare eherne Band, das die Peripherie von dem flachen Lande trennt, führt aber nicht nur zu einer Uebervölkerung wirklicher Wohnräume, sondern weiterhin zur Ausnutzung jedes nur irgendwie zur Beherbergung eines Menschen geeigneten Raumes. Keine Statistik kann die grotesken Dinge erfassen, die dabei geschehen, keine Phantasie sich die merkwürdigen Einzelfälle ausmalen, die in wachsenden Städten zu finden sind. Glücklicherweise brauche ich nicht zu Enquêten über diesen Punkt aufzufordern; Mitglieder wohlhabender Familien brauchen sich nur darnach umzusehen, wie ihre Dienstmädchen und die befreundeter Familien untergebracht sind, um die ganze Kasuistik einer von weiser Sparsamkeit geleiteten Raumausnützung zu erfassen, – mit dem Unterschiede, daß in den Armeleut-Häusern der Wirt solche Gelasse, Verschläge und Winkel als Zimmer vermietet. Die erscheinen dann in der Statistik als Wohnungen mit nur einem heizbaren Zimmer, und nicht selten als von sechs oder mehr Bewohnern occupirt.*

Es ist freilich nicht nur die mehrfach genannte eherne Schranke [zwischen Stadtrand und flachem Land], die zur Concentration und zur Vermietung von Ställen, Trockenböden und Kohlenkellern als menschlichen Wohnräumen führt; in wirtschaftlich fortschreitenden Städten wirkt da noch ein anderer Prozeß mit, der wesentlich in zwei Symptomen sichtbar wird: die Verwandelung des früheren Centrums in einen großen Bazar, und die Umwandlung peripherer Teile in solche vom Typus des bisherigen Centrums.

Leider ist die heutige Wohnungs- und Wohn-Statistik noch gar nicht dazu vorgedrungen, die Zunahme der Läden, Magazine und Lagerräume in den belebten Teilen blühender Städte genau zu verfolgen und ihrem Einflusse auf die Concentration der Bevölkerung und den Preis der Wohnungen nachzugehen. Aber die einfache Inspection der Häuserfronten, ein paar Jahrgänge des Adreß-Buchs und gelegentliche Visiten in den dem Prozesse am meisten unterworfenen Häusern geben doch ein deutliches Bild von der interessanten Umwandlung centraler Stadtteile in einen einzigen Markt, dessen Plätze sich ziemlich gleichmäßig zwischen Engros-Handel, einschließlich der Banken, und elegantem Detail-Handel, verteilen.

Man sollte glauben, daß diese Metamorphose nun auch die ganze Bevölkerung aus dem Centrum verdrängen würde. Aber das gilt wohl für die Londoner City, für New-York zwischen Castle Garden und Postamt-Platz, und für einige Teile Hamburgs, aber nicht im Geringsten für die mittleren Großstädte wie Breslau, Magdeburg, Leipzig, Dresden, und selbst nicht für Berlin und München (eher noch für Wien).


* Die auf diese Weise vom Hausbesitzer gelernte weise Sparsamkeit wird dann von ihm in seinen „herrschaftlichen Wohnungen“ zu 1200-2000 Mark angewendet; erträglich geräumige Zimmer von 7-8 Metern Breite bekommen zwei Zwischenwände, sodaß drei schlauchartige Gelasse als „herrschaftliche Salons“ plötzlich dastehen, ein Baderaum avancirt zum „Schlafzimmer mit anstoßendem Badecabinet“, eine Veranda wird schnell verglast und avancirt zum Balkonzimmer; vom kleinen Corridor wird ein Teil durch eine Holzwand als „Mädchenzimmer“ abgeteilt und das bisherige Mädchengelaß durch etwas Stuck und einen schreiend vergoldeten Ofen zum „Boudoir“ ausstaffirt; flugs ist die hochherrschaftliche Wohnung von 7 Zimmern fertig!

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite