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August Bebel, Rede im Reichstag (8. November 1871)

In der folgenden Reichstagsrede vom 8. November 1871 prangert der führende Sozialdemokrat August Bebel (1840-1913) den Mangel an konstitutionellen und parlamentarischen Rechten in Deutschland und den Bundesstaaten an. Grund für die Ablehnung des vorliegenden Antrags, „dass jeder Bundesstaat eine gewählte Vertretung haben müsse“, durch seine Partei sei dessen vage Formulierung, nicht etwa ein Vorbehalt gegen zentralistische Eingriffe in die Kleinstaaterei der Einzelstaaten.

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Meine Herren! Ich bin heute in der Lage, mit den Herren von der Rechten und im Zentrum gegen den Antrag zu stimmen, (Heiterkeit) allerdings aus anderen Gründen, was selbstverständlich das Organ des Herrn Reichskanzlers, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, nicht abhalten wird, in seiner morgigen politischen Übersicht zu erklären, daß durch die heutige Abstimmung aufs neue bestätigt sei die Kooperation der Schwarzen mit den Roten. (Heiterkeit.) Meine Herren, es sind von jener Seite wesentliche Bedenken wegen der Kompetenzerweiterung der Reichsgewalt, welche die Ausführung des vorliegenden Antrags bedinge, aufgetreten, welche die Herren veranlaßt haben, gegen den gestellten Antrag zu sprechen. Es gab eine Zeit, wo auch wir uns sehr energisch gegen die Kompetenzerweiterung im Norddeutschen Bunde rührten, und zwar nicht deshalb, weil wir etwa so sonderlich für die Existenz der Kleinstaaten eingenommen waren, — Gott behüte, meine Herren, sondern aus dem einfachen Grunde, weil wir uns sagten, daß gegenüber den absolutistisch-militaristischen Gelüsten Preußens in den Kleinstaaten — trotz der Äußerung des Herrn Reichskanzlers, daß sie im Liberalismus noch weit hinter Preußen zurück seien — in den Kleinstaaten das konstitutionelle Leben doch weiter ausgebildet sei und im allgemeinen wenigstens eine etwas freiere Bewegung einer Oppositionspartei gestatte. Indessen, meine Herren, dieser Zustand hat sich im Laufe der letzten Jahre, und ganz besonders im letzten Jahre, sehr bedeutend vermindert. Mit Gründung des Norddeutschen Bundes bereits war jedes selbständige Handeln und jedes selbständige Wirken der Kleinstaaten vernichtet, und mit der Gründung des Deutschen Reiches ‚der Gottesfurcht und frommen Sitte’ wurden auch die süddeutschen Staaten in dieses Nichtkönnen hineingezogen, und mit ihrem selbständigen Wirken war es zuende. Heute, meine Herren, tun — wir, die Sozialdemokraten haben das in den letzten Jahren ja genugsam erfahren — die Kleinstaaten nichts weiter als spielen die Polizeibüttel für Preußen. (Heiterkeit.)

Die Verfolgungen, denen unsere Partei in Sachsen ausgesetzt worden ist, wo man die schon ohnedies reaktionären Gesetze in willkürlichster, reaktionärster Weise in Bezug auf das Versammlungs-, in Bezug auf das Vereinsrecht, in Bezug auf die Preßfreiheit gegen uns ausbeutete, die haben uns gezeigt, daß aus den Kleinstaaten die früheren liberalen Anwandlungen vollständig verschwunden sind, und daß sie nicht mehr in der Lage sind, dem Drücker, der von Berlin aus auf sie wirkt, irgendwie zu widerstehen. Daher, meine Herren, ist es uns heute vollständig gleichgültig, ob die Existenz der kleineren Staaten auch nur noch einen Tag aufrechterhalten wird oder nicht. Wenn es dem Fürsten Bismarck einfallen sollte, morgen sie samt und sonders in die Tasche zu stecken, werden wir zwar nichts dafür tun, wir werden aber auch nicht dagegen sein. (Große Heiterkeit.) Und zwar nicht, weil wir glaubten, daß wir unter der preußischen Fuchtel uns in besseren Zuständen befänden — bewahre; sondern aus dem einfachen Grunde, weil sich die Widerstandskraft, welche sich jetzt gegen einige Dutzend Regierungen zersplittert, alsdann auf den einen Hauptgegner konzentriert, weil all der Haß und Zorn, der bei unseren faulen politischen und sozialen Zuständen von Tag zu Tage im Volke mehr anwächst, gegen einen sich konzentriert, und damit die Möglichkeit geschaffen wird, eines Tages mit dem einen ebenfalls tabula rasa zu machen. (Gelächter.) Meine Herren, Sie sehen, ich bin sehr offen. (Gelächter.) Aber, meine Herren, das ist der Grund, der mich veranlaßt, heute und künftig alle Kompetenzbedenken fallen zu lassen.

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